06.02.2023

Kriminalisierung von Geflüchteten erreicht neue Eskalationsstufe: Junge Frau muss sich in Griechenland wegen versuchtem Selbstmord vor Gericht verantworten

Statement der Initiativen CPT Aegean Migrant Solidarity, borderline-europe e.V., You can’t evict Solidarity vom 03.02.2023:

Am 08. Februar 2023 steht eine inzwischen 29-jährige Frau, die versucht hat, sich im berüchtigten Camp Moria 2 auf der griechischen Insel Lesbos vor Verzweiflung selbst zu verbrennen, nun wegen Brandstiftung vor Gericht.

Hintergrund

Am 21. Februar 2021 hatte die hochschwangere M.M. versucht, sich das Leben zu nehmen, indem sie sich im neuen Registrierungs- und Identifikationszentrum  (RIC) Mavrovouni (auch Kara Tepe oder Moria 2 genannt) auf Lesbos in Brand steckte. Die benachbarten Bewohner:innen im Camp retteten sie aus dem brennenden Zelt und löschten das Feuer mit Wasserflaschen und Handtüchern. M.M. erlitt Verletzungen am ganzen Körper und wurde ins Krankenhaus gebracht. 

Grausamer als die Verbrennungen: Anstatt der traumatisierten Familie Hilfe und psychologische Betreuung zu bieten, wurde M.M. nach dem Vorfall wegen vorsätzlicher Brandstiftung, Gefährdung von Leben und Eigentum anderer sowie Beschädigung einer gemeinschaftlichen Sache (Zelt) durch Feuer angeklagt.

M.M. lebte mit ihrem Ehemann und drei kleinen Kindern zum Zeitpunkt der Verzweiflungstat bereits mehr als fünf Monate im Camp „Moria 2“ unter menschenverachtenden Bedingungen.

Die Situation im Camp war im Winter 2020/21 katastrophal. Der Platz dicht am Meer ist zum Leben vollkommen ungeeignet: Die Zelte brechen durch starken Wind und heftigem Regen immer wieder zusammen oder werden überflutet. Es mangelt an medizinischer Versorgung, Privatsphäre, Strom, fließendem Wasser, heißen Duschen, funktionierenden Toiletten und anderen Hygieneeinrichtungen. Als ob dies nicht genug wäre, bestätigte die griechische Regierung am 23. Januar 2021 öffentlich, dass in den Bodenproben gefährliche Bleikonzentrationen gefunden wurden.

M.M.s Anwältin von der Organisation HIAS Griechenland weist darauf hin, dass schwangere Frauen in der Liste der schutzbedürftigen Personengruppen stehen, die besondere Aufnahmebedingungen erhalten sollten; daher hätte M.M. als schwangere Frau in eine geeignete Unterkunft verlegt werden müssen.

Die Familie konnte mit ihren mittlerweile vier Kindern nach einem entsprechenden Antrag ihrer Anwältin inzwischen nach Deutschland umziehen. M.M. ist immer noch stark traumatisiert und die ganze Familie leidet massiv unter der Anklage.

Auch in Deutschland erhält die Familie bisher nicht die notwendige psychologische Betreuung, um die Erlebnisse verarbeiten und sich dem anstehenden Verfahren stellen zu können. Die strafrechtliche Verfolgung von M.M. wegen ihres Selbstmordversuchs, der nach dem griechischen Strafgesetzbuch nicht strafbar ist und nun brutal als vorsätzliche Brandstiftung eingestuft wird, ist eine erneute Eskalation der Kriminalisierung von Schutzsuchenden. Damit soll zudem von der Verantwortung des griechischen Staates und der EU, angemessene Lebensbedingungen für schutzsuchende Menschen zu gewährleisten,abgelenkt werden. Nach dem selben Muster wurden sechs Jugendliche ohne jegliche Beweise dafür angeklagt und verurteilt, den Brand der zur vollständigen Zerstörung des Camps Moria im September 2020 geführt hat, gelegt zu haben.

Statements

Alice von borderline-lesvos: „Es ist der unglaublichste, entwürdigende Fall von Kriminalisierung, von dem wir je gehört haben. Eine Frau, eine Familie, die verzweifelt Hilfe brauchte, hat schon Monate vor der Tragödie um Hilfe geschrien. Sie konnte eine weitere Geburt in diesem Lager nicht überleben. Sie sah keine andere Möglichkeit, als sich etwas anzutun, um dem Stress und den Schmerzen zu entkommen, denen sie ausgesetzt war. Wir trafen sie, als sie immer noch in tiefer Verzweiflung über das Leben ihrer vier Kinder war....und dann der Schock: Anstatt der Familie zu helfen, wird die Mutter von vier Kindern wegen Brandstiftung angeklagt. Anstatt sie viele Monate zuvor aus den schrecklichen Zuständen, in denen sie lebten, zu evakuieren und ihnen einen sicheren Ort für ein Neugeborenes zu geben, wurde sie kriminalisiert.“

Kim, Kampagne You can`t evict Solidarity: „Die Klage gegen M.M. ist nicht das erste Mal, dass Migrant:innen in Griechenland aus absurden Gründen und ohne Beweise angeklagt wurden. Im aktuellen politischen Umfeld hat die Kriminalisierung von Migration jedoch eine neue Stufe erreicht, ebenso wie die brutalen Pushbacks von Migrant:innen durch die griechische Küstenwache und Frontex."

Christina, CPT Aegean Migrant Solidarity: „Leider überraschen uns die griechischen Behörden immer wieder mit der zunehmenden Kriminalisierung von Migration und Migrant:innen. Neben der Kriminalisierung der Seenotrettung und der Solidarität gehen die griechischen Behörden noch einen Schritt weiter, indem sie die Verzweiflung kriminalisieren. Eine Verzweiflung, die sie selbst in den inhaftierten Männern und Frauen in den Detention Centern hervorgerufen haben. Der Fall von M.M. ist ein Symbol für unmenschliche Behandlung und die Entwertung des Lebens".

Was Solidarität bewirken kann

Im Mai 2022 feierten wir den Erfolg des Freispruchs im Falle von N. einem jungen Vater, der nach dem tragischen Tod seines Sohnes bei der Überfahrt von der Türkei in die EU von der griechischen Justiz wegen Kindeswohlgefährdung angeklagt wurde. Auch dieser Fall zeigte exemplarisch das zynische politische Vorgehen unter dem traumatisierte Geflüchtete mit fadenscheinigen Begründungen strafrechtlich verfolgt werden. Diese Verfahren richten, auch im Falle eines Freispruchs, immense psychologische Schäden bei den Betroffenen an.

Die systematische Kriminalisierung von Schutzsuchenden dient lediglich dem Zwecke der Ablenkung und Abschreckung zum Leidwesen von Menschen, die bereits Opfer eines rassistischen Systems geworden sind, dass sie zur Flucht zwingt und sie gleichzeitig dafür bestrafen will, ein Leben in Sicherheit zu suchen. Der Freispruch des jungen Vaters konnte nur durch das große Solidaritätsnetzwerk erreicht werden, dass gemeinsam mit seinen Anwält:innen für seine Freilassung kämpfte, die meisten Fälle der Kriminalisierung von Migration finden jedoch abseits von öffentlicher Aufmerksamkeit statt und enden meistens mit jahrelangen Haftstrafen.

Unsere Forderungen

Der Prozess gegen M.M. war ursprünglich auf den 22.06.2022 angesetzt. Ein Zeuge der Anklage, ein Zeltnachbar von M.M. war nicht erschienen. Obwohl seine Aussage schriftlich vorlag, nutzte das Gericht die Gelegenheit, den Prozess zu verschieben. Dieses Vorgehen ist inzwischen ein fester Bestandteil der brutalen Kriminalisierung von Schutzsuchenden und erfordert eine Menge Energie und Ressourcen. Zudem wurde der Antrag der Verteidigung abgelehnt, die Verpflichtung aufzuheben, nach der sich die schwer traumatisierte Frau regelmäßig bei der griechischen Botschaft melden muss. M.M. und ihre Familie mussten 8 weitere Monate in Ungewissheit bleiben und dürfen ihre traumatischen Erlebnisse noch immer nicht hinter sich lassen.

Wir stehen in Solidarität mit M. M. und ihrer Familie und gegen das tödliche europäische Grenzregime!
Wir fordern einen fairen und transparenten Prozess! Dieser kann nur zu einem Freispruch für M.M. führen. 
Wir fordern den griechischen Staat und die EU auf, Verantwortung für die unmenschlichen Lager zu übernehmen!

  • Stoppt die Kriminalisierung von Flucht und Migration!

  • Stoppt die Abschottung der Menschen am Rande der EU!

  • No more Morias!

  • Freispruch für M.M!

UNTERZEICHNE die PETITION: Freiheit für M.M. – Frau wegen versuchtem Selbstmord in Griechenland vor Gericht