Statement 18.03.2023, Support campaign #FreeTheMoria6
Nach dem Brand in Moria 2020: Der Justizskandal geht weiter... Vier Jugendliche aus Afghanistan bleiben trotz eindeutiger Beweise für ihre Unschuld in Haft.
Der ursprünglich für den 6. März 2023 angesetzte Berufungsprozess gegen vier der Moria 6 wurde um ein Jahr auf den 4. März 2024 verschoben. Obwohl nachgewiesen werden kann, dass die bisher vorgebrachten Beweise nicht stichhaltig sind, ist zu erwarten, dass die vier Jugendlichen, die 2020 nach den Bränden in Moria verurteilt wurden, bis zum neuen Verhandlungstermin inhaftiert bleiben.
Da die Richter_innen die geplanten Anhörungen am frühen Nachmittag beendeten, wurde der Fall am 6. März nicht verhandelt. Das Gericht vertagte die Verhandlung zunächst auf den 8. März, obwohl die Verteidigung auf einen landesweiten Generalstreik (wegen des Zugunglücks, bei dem 57 Menschen ums Leben kamen) hingewiesen hatte.
Am 8. März vertagte das Gericht die Berufungsverhandlung erneut, diesmal auf ein Jahr später (4. März 2024) mit Verweis auf den Generalstreik und der Begründung, dass es im nächsten Jahr keinen anderen Verhandlungstermin gebe.
Nachdem die Jungen zwei Tage lang in Handschellen und von Polizei bewacht im Gerichtssaal gewartet hatten, wurde ihnen schließlich mitgeteilt, dass ihr Prozess verschoben werde und sie für ein weiteres Jahr ins Gefängnis zurückkehren müssten. Als die Jungen von dieser Entscheidung erfuhren, waren sie schockiert, verzweifelt und wütend. Auch die Empörung der anwesenden Unterstützer_innen, der internationalen Prozessbeobachter_innen und der Pressevertreter_innen im voll gefüllten Gerichtssaal war groß. Selbst die Bewohner_innen des Dorfes Moria, die durch das Feuer ihr Land verloren hatten, sagten untereinander: "Werden diese Kinder noch ein Jahr im Gefängnis bleiben? Denn wir wissen nicht, wer es [die Brandstiftung] getan hat."
Die Vertagung des Berufungsprozesses für Moria 6 bedeutet, dass entscheidende neue Beweise, die zeigen, dass die Aussage des Kronzeugen der Anklage völlig falsch ist, ein weiteres Jahr nicht untersucht werden.
Im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Berufungsprozess wurden Forensic Architecture (FA)und Forensis von den Anwält_innen beauftragt, den Brand zu rekonstruieren und die Aussagen des Kronzeugen zu überprüfen. (1)
Einige Ergebnisse ihrer Analyse:
• Die Untersuchung ordnet den jüngsten Brand in die Geschichte des überfüllten Lagers mit hunderten von Bränden ein und zeigt, dass er vielmehr eine vorhersehbare Folge der prekären und unsicheren Lebensbedingungen war, die von den EU- und griechischen Behörden über Jahre hinweg geschaffen und aufrechterhalten wurden.
• Die Rekonstruktion zeigt, dass kurz nach 23.30 Uhr am 8. September 2020 in der Nähe von Zone 6 die ersten Brände ausbrachen, die sich aufgrund der Windrichtung und -stärke, aber auch wegen der brennbaren Materialien (Gaskanister zum Kochen, Planen und Plastikabdeckungen der Zelte) schnell auf das gesamte Lager ausbreiteten. Das Feuer wütete drei Tage lang und zerstörte das größte Lager Europas vollständig.
• Der Kronzeuge des Prozesses behauptete, eine Gruppe Jugendlicher habe das Feuer in Zone 12, in der er wohnte, gelegt und er könne fünf der Angeklagten identifizieren. Die Analyse ergab jedoch, dass die Glut von Bränden in anderen Gebieten aufgrund des starken Windes zu neuen punktuellen Bränden in Zone 12 geführt hatte und nicht Brandstiftung. Dies war der gravierendste, aber nicht der einzige Fehler in der Aussage des Zeugen.
• Der Zeuge sagte unter anderem auch aus, dass er am Abend des 8. September Brände in Zone 9 gesehen habe. Die Auswertung von Satellitenbildern zeigt jedoch, dass es in der Zone 9 nicht in dieser Nacht, sondern erst in den darauffolgenden Nächten gebrannt hat.
Dimitra Andritsou, Forschungskoordinatorin des FA/Forensis-Teams erklärte: "Die von uns durchgeführte Analyse [...] beweist, dass die jungen Asylbewerber, die der Brandstiftung beschuldigt wurden, auf der Grundlage schwacher und widersprüchlicher Beweise verhaftet wurden, was darauf hindeutet, dass [...] die griechische Regierung einen Sündenbock für eine Katastrophe brauchte, die vorprogrammiert war". (2)
Nur wenige Tage nach den Bränden im September 2020 hatte die Polizei die sechs Jugendlichen verhaftet ("Moria 6") und der Brandstiftung beschuldigt. Ab dem Moment ihrer Verhaftung, lange vor dem Start eines Gerichtsverfahrens wurden sie in der Öffentlichkeit bereits als Schuldige präsentiert. Am 16. September 2020, nur eine Woche nach den Bränden, erklärte der griechische Minister für Migration und Asyl Mitarakis in einem Interview mit CNN, dass “das Lager von sechs afghanischen Flüchtlingen in Brand gesetzt wurde, die verhaftet wurden”. (3) Diese frühzeitige Erklärung verletzte das Prinzip der Unschuldsvermutung, die allen Angeklagten zusteht und Voraussetzung für faire Gerichtsprozesse ist.
Die "Moria 6" wurden in zwei getrennten Prozessen verurteilt, die weithin als "Parodie der Justiz" bezeichnet wurden. Obwohl gültige Dokumente vorlagen, wurden nur zwei der sechs Verhafteten als Minderjährige anerkannt und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die Angeklagten, die als Erwachsene identifiziert wurden, wurden im Juni 2021 in erster Instanz wegen Brandstiftung mit Gefährdung von Menschenleben zu 10 Jahren Haft verurteilt, wobei sich das Gericht weigerte, mildernden Umstände zu berücksichtigen. Die internationalen Prozessbeobachter_innen kamen in ihrem jetzt veröffentlichten umfassenden Bericht zu diesem Verfahren zu dem Schluss, dass das Recht der Angeklagten auf ein faires Verfahren wiederholt verletzt wurde. (4) "Sie haben uns überhaupt nicht zugehört", sagte eine Anwältin, als sie den Gerichtssaal verließ, "dieses Urteil stand bereits fest, als die Angeklagten Mitte September 2020 verhaftet wurden". Unmittelbar nach der Urteilsverkündung legte die Verteidigung Berufung ein.
Die Verschiebung des Berufungsverfahrens für die Moria 6 bedeutet auch, dass wichtige neue Beweise, die zeigen, dass drei der vier jungen Männer bei ihrer Verhaftung minderjährig waren, erst in einem Jahr geprüft werden können.
Es muss nochmal betont werden, dass sich Gericht einzig auf die schriftliche Aussage eines angeblich nicht mehr auffindbaren Zeugen stützt, dessen Aussage jedoch voller Widersprüche ist, wie die umfangreiche Analyse der Brandnacht zeigt. Der Zeuge war bei keiner Verhandlung anwesend. Während des ersten Prozesses legten die Anwält_innen Einspruch ein und forderten das Gericht auf, die Aussage dieses Mannes nicht zu berücksichtigen, da er die Angeklagten nicht beschrieben, sondern lediglich häufig vorkommende Vornamen genannt habe. Die Anwält_innen konnten jetzt zeigen, dass sein Aufenthalt während des ersten Verfahrens bekannt war. Es lässt sich daher mutmaßen, dass dem Gericht die fingierte Aussage des einzigen Zeugen durchaus bewusst ist und es die Verurteilung der Jugendlichen trotz mangelnder Beweise in diesem politischen Schauprozess nicht gefährden wollte.
Die Befürchtung einer Vorverurteilung bestätigte sich bereits, als die beiden offiziell als minderjährig anerkannten Jugendlichen der Moria 6 im März 2021 vom Jugendgericht Lesbos zu fünf Jahren Haft verurteilt wurden. Obwohl nach wie vor keine glaubwürdigen Beweise vorlagen wurde das erstinstanzliche Urteil ein gutes Jahr später im Juni 2022 vom Jugendberufungsgericht bestätigt. Lediglich das Strafmaß wurde wegen “guter Führung im Gefängnis” von fünf auf vier Jahre reduziert. Die Anwält_innen vom Legal Centre Lesvos stellten daraufhin einen Antrag auf Annullierung des unfairen Urteils. Dieser wurde am 10. März 2023 vor dem obersten Gerichtshof verhandelt und mit einer Entscheidung kann in den nächsten Monaten gerechnet werden. Alle drei bisherigen Prozesse gegen die Moria 6 haben die Rechte der Angeklagten eklatant verletzt und endeten mit groben Fehlurteilen. Wir sind dennoch nicht optimistisch, dass die schweren Verfahrensfehler vom obersten Gerichtshof anerkannt werden, jedoch sind die Verhandlungen ein notwendiger Schritt bevor das Verfahren an den Europäischen Gerichtshof weitergeleitet werden kann.
Zumindest einer der sechs Angeklagten ist inzwischen in Freiheit, da sein Antrag auf Freilassung auf Bewährung stattgegeben wurde. Die anderen fünf Jugendlichen befinden sich nunmehr seit mehr als 2,5 Jahren im Gefängnis. Die Verteidiger_innen beabsichtigen, die bedingte Entlassung der jungen Männer aus dem Gefängnis auf Bewährung zu beantragen. Zur Zeit haben wir wenig Optimismus, dass der Antrag vom Gericht angenommen wird. Politischer und öffentlicher Druck von uns Allen könnte die Chancen auf ihre Freilassung erhöhen!
Die Ungerechtigkeiten, die seit der Verhaftung der Moria 6 begangen wurden, sind leider keine Einzelfälle, sondern Teil der systematischen Kriminalisierung von Asylsuchenden. Willkürliche und langwierige Prozessverschiebungen als Teil der grausamen Behandlung durch das griechische Justizsystem sind zur Norm geworden. Die kontinuierliche, brutale Kriminalisierung hat zu einer völligen Überlastung des Justizsystems geführt, das immer mehr einem zusammenbrechenden Unrechtssystem gleicht.
Die Verurteilung der sechs Jugendlichen ist ein weiteres schockierendes Beispiel dafür, wie Menschen auf der Flucht kriminalisiert werden, um von dem Verbrechen der EU und Griechenland abzulenken, menschenunwürdige Camps wie das Camp Moria zu bauen und aufrecht zu erhalten.
Wir stehen in Solidarität mit den Moria 6 und gegen das tödliche europäische Grenzregime!
Wir fordern die EU und den griechischen Staat auf, Verantwortung für die menschenunwürdigen Lager und das daraus resultierende menschliche Leid zu übernehmen!
++Teilt die Infos, organisiert Solidaritätsaktionen unter dem Hashtag #FreeTheMoria6
++Informationen zum rechtlichen Kontext siehe Legal Centre Lesvos (5)
Weitere Informationen und Kontakte:
E-Mail: freethemoria6@riseup.net, Twitter: #FreeTheMoria6
Blog: https://freethemoria6.noblogs.org/
(1) https://forensic-architecture.org/investigation/fire-in-moria-refugee-camp
(2) https://wearesolomon.com/mag/focus-area/accountability/the-fire-at-moria-a-disaster-destined-to-happen/
(3) https://www.youtube.com/watch?v=52lWG65Wbq4
(4) https://djs-jds.ch/images/230305_Report_FINAL.pdf
(5) https://legalcentrelesvos.org/2023/03/09/update-on-the-trials-of-the-moria-6-justice-delayed-is-justice-denied/
Copiright picture: Colin Lloyd unsplash