Ungerechtfertigte Verurteilung einer verzweifelten Mutter nach Selbstmordversuch
Statement der Initiativen CPT Aegean Migrant Solidarity, borderline-europe e.V., You can’t evict Solidarity vom 09.02.2023:
Am 08. Februar 2023 wurde eine 29-jährige Frau, die versucht hat, sich im berüchtigten Camp Moria 2 auf der griechischen Insel Lesbos aus Verzweiflung selbst zu verbrennen, wegen Brandstiftung und Sachbeschädigung verurteilt.
M.M. wurde zwar von der Anklage der Brandstiftung mit Gefährdung anderer Personen freigesprochen. Eine Verurteilung für dieses Kapitalverbrechen hätte bis zu 10 Jahren Gefängnis bedeutet. Sie wurde jedoch für vorsätzliche Brandstiftung und Beschädigung von fremden Eigentums schuldig befunden, was zu einer 15-monatigen Haftstrafe auf Bewährung führte.
Dies wurde von einer gemischten Jury einstimmig entschieden, obwohl selbst der Staatsanwalt das Fallenlassen der Anklage wegen Brandstiftung angemessen sah, da der Tatbestand laut Gesetz nicht vorlag. Skandalös ist, dass die Jury die Tat nicht als Selbstverletzung bewertete, die in Griechenland nicht unter Strafe steht.
Die Anwält*innen der Organisation HIAS Greece zeigten sich von dem Urteil zunächst entsetzt und enttäuscht. Eine Anerkennung der Fakten hätte zu einem Freispruch führen müssen. Eine Verzweiflungstat ist kein Verbrechen. Deshalb werden die Anwält*innen Berufung gegen das Urteil einlegen.
Die Entscheidung des Gerichts, die katastrophalen Umstände des Camps, die die Ursache der Verzweiflungstat waren und für die der griechische Staat verantwortlich ist, nicht anzuerkennen, war ebenso politisch motiviert wie das Verfahren an sich. Zahlreiche Supporter*innen verfolgten den Prozess, fast 500 Menschen hatten eine Petition für einen Freispruch unterschrieben.
Hintergrund
Die Situation im Camp war im Winter 2020/21 katastrophal. Der Platz dicht am Meer ist zum Leben vollkommen ungeeignet: Die Zelte brechen durch starken Wind und heftigem Regen immer wieder zusammen oder werden überflutet. Es mangelt an medizinischer Versorgung, Privatsphäre, Strom, fließendem Wasser, heißen Duschen, funktionierenden Toiletten und anderen Hygieneeinrichtungen.
Am 21. Februar 2021, 27 Jahre alt, im 8. Monat schwanger mit ihrem vierten Kind und seit 14 Monaten in den Camps auf Lesvos, erfährt M.M., dass die Umsiedlung ihrer Familie aufgrund ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft verschoben wird. Sie weiß, dass sie nach der Geburt ins Zelt zurückkehren, vor einer chemischen Toilette Schlange stehen und in der Kälte am Meer stillen wird. Sie lässt ihre Kinder bei den Nachbarn, setzt sich in die Mitte ihres Zeltes und zündet sich an.
Die benachbarten Bewohner:innen im Camp retteten sie aus dem brennenden Zelt und löschten das Feuer mit Wasserflaschen und Handtüchern. M.M. wird mit schweren Verbrennungen in ein Krankenhaus gebracht und dort direkt von der Polizei verhört und wie eine Verbrecherin behandelt. Unglaublich: Anstatt der traumatisierten Familie Hilfe und psychologische Betreuung zu bieten, wurde M.M. nach dem Vorfall angeklagt.
Ihre Anwältin weist darauf hin, dass eine schwangere Frau zur schutzbedürftigen Personengruppe gehört, daher hätte M.M. in eine geeignete Unterkunft verlegt werden müssen. Der griechische Staat hat bereits mehrere derartige Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof verloren.
Die Familie konnte mit ihren mittlerweile vier Kindern (im Alter von fast 2, 3, 6 und 8 Jahren) nach einem entsprechenden Antrag ihrer Anwältin inzwischen nach Deutschland umziehen. M.M. ist immer noch stark traumatisiert und die ganze Familie leidet massiv unter der Anklage. Wir sind froh, dass M.M. an diesem Prozess nicht persönlich teilnahm.
Für M.M. bringt das Urteil zwar ein wenig Erleichterung, da sie sich jetzt nicht mehr regelmäßig bei der griechischen Botschaft melden muss.
Die Verurteilung von M.M. wegen ihres Selbstmordversuchs, der nach dem griechischen Strafgesetzbuch nicht strafbar ist und nun brutal als vorsätzliche Brandstiftung eingestuft wurde, ist dennoch als erneute Eskalation der Kriminalisierung von Schutzsuchenden zu werten. Damit soll vor allem von der Verantwortung des griechischen Staates und der EU, angemessene Lebensbedingungen für schutzsuchende Menschen zu gewährleisten, abgelenkt werden.
Statements
Alice von borderline-lesvos: “Dieser Prozess ist dermaßen verdreht. Ein Hilferuf, ein Selbstmordversuch einer Frau wird zur Straftat gemacht. Die Umstände, die sie zu dieser Tat veranlasst haben, sind das eigentliche Verbrechen. Wenigstens muss sie nicht ins Gefängnis. Das ist natürlich eine Erleichterung aber keine Gerechtigkeit”
Kim, Kampagne You can`t evict Solidarity: „Wir sind entsetzt über das ungerechtfertigte Urteil, statt einer „Entschuldigung“ und einem vollständigen Freispruch, nun eine Verurteilung. Dies ist nicht das erste Mal, dass Migrant:innen in Griechenland aus absurden Gründen verurteilt werden, stellvertretend für die katastrophalen Zustände in den Camps und die Brutalität der EU-Außengrenzen.
Wir stehen weiterhin in Solidarität mit M. M. und ihrer Familie und gegen das tödliche europäische Grenzregime!
Wir fordern den griechischen Staat und die EU auf, Verantwortung für die unmenschlichen Lager zu übernehmen!
- Stoppt die Kriminalisierung von Flucht und Migration!
- Stoppt die Abschottung der Menschen am Rande der EU!
- No more Morias!
- Freispruch für M.M!