Iuventa-Prozess zerfällt: Hauptbelastungszeug*innen komplett unglaubwürdig
von Julia Winkler, borderline-europe
Dass die italienischen Strafverfolgungsbehörden ein riesiges Verfahren aus dem Boden stampften, das inzwischen fast 7 Jahre andauert, ein Schiff beschlagnahmten, das inzwischen verrottet ist, und sich dabei lediglich auf die Aussagen zweier geschasster Ex-Polizist*innen stützten, ist ein riesiger Skandal – und hat System.
Nach fast zwei Jahren Vorverhandlung wurden die zwei Hauptbelastungszeug*innen am vergangenen Samstag, den 10.02.24, ins Gericht nach Trapani geladen, um sie ins Kreuzverhör zu nehmen. Bei den Zeug*innen der Anklage, Pietro Gallo und Floriana Ballestra, handelt es sich um zwei Ex-Polizist*innen, die 2016 auf dem Schiff "Vos Hestia" von Save the Children als Angestellte der Sicherheitsfirma "IMI Security Service" angeheuert hatten. Beide waren jeweils aufgrund einer langen Liste von schwerwiegendem Fehlverhalten im Amt, Betrug und Täuschung aus dem Polizeidienst gefeuert worden. So wurde etwa Gallo u.a. deswegen entlassen, weil er Drogen im Auto eines Liebesrivalen deponiert hatte, um diesen aus dem Weg zu räumen.
Doch als die zwei Ex-Beamt*innen, deren Integrität zuvor nach Einschätzung der Behörden so beschädigt war, dass sie für den staatlichen Dienst untragbar waren, 2016 die gleichen Behörden kontaktierten, da sie angebliche Augenzeug*innenberichte von "verdächtigem" Verhalten ziviler Seenotrettungsorganisationen anzubieten hätten, empfing man sie mit Kusshand und zweifelte die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen keine Sekunde an.
Doch nicht nur das. Die Staatsanwaltschaft wusste sogar von Anfang an durch Telefonate, die sie selbst abgehört und dokumentiert hatte, dass die beiden sich davon eine Rückkehr in den Polizeidienst und/oder eine politische Karriere bei der rechtsextremen Lega Nord erhofften. So hatten die beiden sowohl Matteo Salvini als auch Giorgia Meloni zu kontaktieren versucht, um ihnen Information und Material für den Wahlkampf anzubieten. Salvini forderte sie dazu auf, aktiv nach kompromittierendem Material zu suchen. Als sich weder eine Rehabilitation im Polizeidienst noch eine Position in der Partei realisierte, nahm Pietro Gallo seine Anschuldigungen sogar öffentlich zurück.
All diese Details wurden jedoch geflissentlich ignoriert.
Stattdessen nahm man die Aussagen zweier geschasster, stets auf ihren eigenen Vorteil bedachten Ex-Beamt*innen, die eine offenkundige Nähe zu rechten, migrationsfeindlichen Parteien aufwiesen, als willkommenen Vorwand, endlich der Seenotrettung einen Riegel vorzuschieben. Konnte so dank dieser "Beweislage" ein Schiff beschlagnahmen und die Beschlagnahmung öffentlichwirksam iszenieren, um in der Presse alle möglichen Vermutungen und Gerüchte zu lancieren und die zivilen Seenotretter*innen zu diskreditieren; zwang Aktivist*innen dazu, Zeit, Energie und Geld umzulenken.
Fake Ermittlungen strategisches Mittel auch auf Lesbos
Die Parallelen zum Prozess von Sara Mardini, Seán Binder & Co der #FreeHumanitarians auf Lesbos sind unverkennbar. In bisherigen Prozessverlauf versuchen Ermittlungsbehörden nicht einmal mehr, irgendetwas zu beweisen. Bei der letzten Verhandlung am 16. Januar, die sich mit den Anschuldigungen der Vergehen auseinandersetzte, erschienen die Hauptzeug*innen der Anklage, Polizist*innen und Beamt*innen der Küstenwache, entweder erst gar nicht oder waren außer Stande, irgendwelche Angaben zur Sache zu machen. Alle 16 Angeklagten wurden von allen Anklagepunkten, darunter Spionage oder die unerlaubte Nutzung von Funkfrequenzen, freigesprochen – nach 6 Jahren Verfahren, an dessen Anfang manche sogar drei Monate in Untersuchungshaft verbringen mussten. Indes hat der Prozess für die schweren Straftaten – der Vorwurf der Beihilfe zur unerlaubten Einreise – noch nicht einmal begonnen.
Auch die Zeug*innen im Verfahren gegen die iuventa-Crew legten am vergangenen Samstag im Gerichtssaal eine geradezu groteske Performance ab. "Spätestens jetzt haben sie sich selbst und alles, was sie damals gesagt haben, vollkommen diskreditiert", kommentierte Sascha Girke, eine der vier Angeklagten der iuventa-Crew, im Anschluss an 10 Stunden Verhandlung.
Könnte die dürftige, zum Teil schon grotesk dilettantisch anmutende und leicht zu widerlegende "Ermittlungsarbeit" Anlass zur Erleichterung sein, zeigt sie doch vor allem eines: Es ging nie ernsthaft um eine Verurteilung. Den ermittelnden Stellen war vermutlich von Anfang an klar, dass die Anschuldigungen in einem Gerichtssaal nie aufrecht erhalten werden könnten. Vielmehr waren die Ermittlungen ein strategisches Mittel, um zu blockieren. Den Prozessen, die sich erst Jahre später tatsächlich mit den Anschuldigungen auseinandersetzen, kommt in dieser Strategie nur zweitrangige Bedeutung zu.
Wenn also das Verfahren gegen die iuventa-crew im März – hoffentlich – eingestellt wird, ist auch dies folglich nur bedingt ein Grund zur Freude. Denn ähnlich wie der Prozess auf Lesbos verdeutlicht die Nicht-Existenz von Indizien und beinahe atemberaubende Dilettanterei seitens der Behörden, die dabei ans Licht kommt, auf schockierende Weise, wie absolut mühelos staatliche Akteur*innen umfassende justizielle Mittel mobilisieren können, um unliebsamen Aktivismus lahmzulegen, ohne dafür irgendwelche Konsequenzen fürchten zu müssen.
➔ Mehr Infos zum Verfahren findet ihr auf der Website der iuventa-crew, in ihrer Presseerklärung vom 11.02.24 und der dazugehörigen Pressemappe.
➔ Chronologie der Ereignisse: Iuventa: "Wir riskieren 20 Jahre Haft, aber sie werden die Solidarität nicht beenden!"