15.06.2022

Die Flut hebt alle Boote - From Sea To Prison Quartalsbericht

Projekt: “From Sea to Prison”: Die Flut hebt alle Boote.

Zweiter Quartalsbericht, Juni 2022

Das Kollaborationsprojekt From Sea to Prison von Arci Porco Rosso, borderline-europe sowie Borderline Sicilia konzentriert sich auf den Aufbau von Solidaritätsnetzwerken für Migrant*innen, die als sogenannte “scafisti” (Bootsfahrer*innen) angeklagt wurden. Das Projekt entstand als Folge der Veröffentlichung des gleichnamigen Reports im Oktober 2021. In diesem Artikel möchten wir über den aktuellen Stand und den Verlauf unserer Arbeit sowie über neue Informationen und Erkenntnisse zur Kriminalisierung von Migrant*innen und solidarischen Netzwerken berichten. Der erste Quartalsbericht findet sich hier.

Der Zeitraum von März 2022 bis heute war gekennzeichnet von den unerwarteten Entwicklungen einer Krise, die die Welt erschütterte: der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Ein Ereignis, welches nicht nur Auswirkungen auf die geopolitische Lage Europas hat, sondern auch auf die europäische Politik gegenüber Menschen, die Flüchtende unterstützen. Es wurde einerseits völlig zurecht jenen Menschen Anerkennung entgegen gebracht, welche Schutzsuchenden aus der Ukraine halfen nach Italien einzureisen. Andererseits brachte diese Anerkennung die Doppelmoral zum Vorschein, mit welcher dieselben staatlichen Funktionäre diejenigen kriminalisieren, welche Menschen auf ihrer Flucht aus afrikanischen sowie aus Ländern des mittleren Ostens unterstützen. Ukrainische Bootsfahrer*innen werden, wie auch schon vor Beginn der Ukraine-Krise, weiterhin dafür angeklagt und verurteilt, Menschen aus Ländern wie Afghanistan, Iran oder Pakistan an sicherere Orte innerhalb Europas zu bringen. So finden sich in den Nachrichten regelmäßig Berichte über die Festnahme von ukrainischen Staatsbürger*innen unter dem Vorwurf der Beihilfe zur unerlaubten Einreise, wie auch Valeria Colombo in ihrem Artikel in der letzten Ausgabe des Magazins Left erzählt.

Personen, die Menschen in Not bei der Überwindung von Grenzen helfen, werden somit weiterhin als Schmuggler*innen beschuldigt und verurteilt. Die Ukraine-Krise zeigt uns, dass eine bessere Welt möglich wäre, doch dazu bracuht es den politischen Willen. Des Weiteren wird deutlich, dass das Konzept der “Illegalität” von Migration nicht nur schwammig ist, sondern auch auf Willkür beruht und zu jeder Zeit geändert werden kann, wenn von staatlicher Seite als geeignet erachtet wird. Solidarität und Unterstützung für Menschen auf der Flucht sollten zu jeder Zeit gewährleistet werden, unabhängig von Merkmalen wie dem Herkunftsort, der Religion oder der Hautfarbe der Betroffenen. Die Flut hebt alle Boote.

Während diese neue militärische und politische Krise im Gange ist, tritt das anhaltende Geschehen der Covid-19 Pandemie in den Hintergrund. Dies bringt unterschiedliche Konsequenzen für Menschen, die der Beihilfe zur unterlaubten Einreise beschuldigt wurden, mit sich. Positiv zu vermerken ist insbesondere die allmähliche Öffnung der Gefängnisse für Familien und Freiwillige, welche den Gefangenen zumindest ein Stück Nähe zur Gesellschaft zurückgibt. Der italienische Staat hat zudem endlich entschieden der illegitimen Nutzung der Quarantäneschiffe ein Ende zu setzen - einer Form der Verwaltungshaft, die seit dem Beginn der Covid-19 Krise genutzt und missbraucht wurde, um Geflüchtete nach ihrer Ankunft in Italien festzuhalten. Die Folgen dieser Veränderung für die Kriminalisierung der Bootsfahrer*innen sind allerdings noch nicht absehbar. Deshalb werden wir die Praktiken bei den Bootsankünften weiter beobachten, um herauszufinden, ob es eine Rückkehr zu den früheren Ermittlungs- und Festnahmemethoden geben wird oder ob einige der in den letzten zwei Jahren eingeführten Maßnahmen weiter etabliert werden.

1. Soziale & rechtliche Unterstützung

Die Kernaufgabe unserer Arbeit ist die soziale und rechtliche Unterstützung jener Menschen, welche als Bootsfahrer*innen beschuldigt und in der Folge angeklagt werden. In den vergangenen Monaten haben wir die Fälle von verschiedenen Bootsfahrer*innen begleitet, welche in den CPR (Centri di Permanenza per il Rimpatrio) – Verwaltungshaftanstalten zur Rückführung von Nicht-EU Bürgern – festgehalten werden und gezwungen werden, auf ihre Abschiebung aus Italien zu warten. Menschen, die unter dem Tatbestand der Beihilfe zur irregulären Einreise, Artikel 12 des TUI (Test Unico sull’immigrazione), angeklagt wurden, finden sich signifikant häufiger in diesen Abschiebehaftanstalten wieder, oftmals auch noch Monate nach ihrer Entlassung oder einem erfolgtem Freispruch. Diese Praxis verdeutlicht einmal mehr die Folgen der Kriminalisierung für die Betroffenen. Wir verfolgten den Fall eines libyschen Staatsbürgers, der vor drei Jahren von allen Anklagen freigesprochen wurde und dennoch auf Grundlage einer vermeintlichen “sozialen Gefährdung” zwei Monate in einem CPR festgehalten wurde. Ein solches Vorgehen sollte die Zivilgesellschaft aufhorchen lassen und empören: Was ist das für eine Demokratie, in der Menschen mit gültigem Aufenthaltsrecht eingesperrt werden können, nachdem sie unrechtmäßig einer Straftat beschuldigt wurden und bereits einen Freispruch erhalten haben?

Ebenso mussten wir schmerzvoll den Fall eines biafranischen Bootsfahrers verfolgen, welcher nach dem Absitzen seiner fünfjährigen Haftstrafe neun Monate lang in einem CPR inhaftiert und anschließend nach Nigeria abgeschoben wurde. Aus seinem Heimatland Nigeria war er zuvor vor politischer Verfolgung geflohen. Obwohl im nach dem Absitzen seiner Haftstrafe gemäß der Genfer Flüchtlingskonventionen der Zugang  zu einem Asylverfahren gewährt werden müsste, wurde es dem Betroffenen verwehrt, seine Fluchtgründe darzulegen.

Allerdings konnten wir einige Personen nach ihrer Freilassung auch unterstützen. Darunter B., ein gambischer Staatsbürger, der seit 2015 in einem Gefängnis in Kalabrien inhaftiert war und mit dem die Aktivist*innen des Porco Rosso über fünf Jahre lang Briefkontakt hielten. Alle Beteiligten waren glücklich, ihn nach einer langen Reise durch die Ungerechtigkeit des sogenannten italienischen Rechtsstaates endlich in Palermo willkommen heißen zu können. Wir danken den Anwält*innen in Kalabrien, dem Arci Cosenza und den Organisationen Laici Comboniani und der CLEDU für ihre kontinuierliche Unterstützung sowie ihre Hilfe bei dem Versuch B. nach Sizilien zu holen.

Unsere Arbeit umfasst auch die Anwesenheit bei Anhörungen vor Gericht, sofern dies möglich ist. So konnten wir etwa bei dem Prozess eines tunesischen Staatsbürgers anwesend sein, der kürzlich in Agrigento eröffnet wurde. Ein sehr erfolgreiches Beispiel ist die Rechtsangelegenheit im Falle von 17 Personen, welche die Aktivist*innen des Projektes schon von Beginn an begleiten. So berichteten wir bereits in der letzten Ausgabe unseres Berichts über den wichtigen Sieg in einem über sechs Jahre andauernden Gerichtsprozess, welcher mit in einem Freispruch von einem Großteil der Angeklagten endete.

Zudem unterstützten wir einen Anwalt kürzlichen bei einem Gesuch auf Hausarrest an Stelle einer Gefängnisstrafe für zwei tunesische Bootsfahrer.  Wir hoffen, dass dies der erste vieler weiterer Anläufe sein wird, Bootsfahrer*innen den Zugang zu alternativen Strafmaßnahmen zu ermöglichen.

2. Recherche

Wir verfolgen weiterhin systematisch die italienische Medienlandschaft, um Verhaftungen sowie Verurteilungen von Migrant*innen zu dokumentieren und diese mit den wenigen offiziellen Daten, die uns zugänglich gemacht werden, abzugleichen. So behauptet die Polizia Moderna in ihrer aktuellen Ausgabe von April 2022, dass im Laufe des Jahres 2021 "in den unmittelbaren Stunden nach ihrer Ankunft, 225 Personen verhaftet wurden, unter ihnen seien scafisti, Organisatoren und Helfer*innen sowie 751 Boote, die beschlagnahmt wurden." In Anbetracht von circa 67.500 Ankünften von Geflüchteten im Jahr 2021, wurden also 0,33% der angekommenen Personen verhaftet. Hier zeigt sich ein klarer Rückgang gegenüber den Zahlen aus unserer Analyse aus dem Jahr 2020.

Nach unserer Auswertung der italienischen Nachrichten registrierten wir 145 Personen, welche, hinsichtlich ihrer Einreise nach Italien auf dem Seeweg, im Jahre 2021 des Tatbestandes aus Art. 12 des TUI beschuldigt wurden. Unter den Betroffenen befinden sich 37 ukrainische Staatsbürger*innen, 34 Ägypter, 21 Türken, 8 Tunesier, 7 Russen sowie 7 Moldawier. Die  verbleibenden Verhafteten stammen aus Gambia, Griechenland, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Palästina, Syrien, Sudan, Deutschland und Turkmenistan. Auch wenn diese Daten ungenau sind können wir dennoch beobachten, dass fast ein Drittel der Verhafteten Russen und Ukrainer waren; eine Zahl, die auf ein Muster der Kriminalisierung zurückzuführen ist, das dem Beginn des Krieges vorausging. Ein weiteres Viertel der Verhafteten stammt aus Ägypten.

In unserem Quartalsbericht  vom Oktober 2021, präsentierten wir erstmals Daten zu den Verhaftungen von scafisti innerhalb den vergangenen zehn Jahren. Im Verlauf des bisherigen Jahres stellten wir Anträge auf einen öffentlichen Zugang zu den Daten über kriminalisierte Geflüchtete. Da die verschiedenen sizilianischen Staatsanwaltschaften auf unsere Anfragen sehr unterschiedlich reagierten, sind die uns bisher zur Verfügung gestellten Daten zu lückenhaft, eine zuverlässige Analyse zu ermöglichen. Wir erachten es allerdings als wichtig zu erwähnen, dass die Staatsanwaltschaft von Agrigento in den ersten drei Monaten des Jahres 2022 bereits 33 Personen in das Register der Verdächtigen für die Straftat nach Artikel 12 des TUI aufgenommen hat, während es im gesamten Jahr 2021 lediglich 26 Personen waren. Diese Zahl bestätigt erneut, dass das Phänomen der Kriminalisierung von Geflüchteten auf Sizilien in erheblichem Maße fortbesteht.

3. Entstehung eines Netzwerkes

Netzwerktreffen und Austauschmöglichkeiten mit anderen solidarischen Akteur*innen zu organisieren ist ein wichtiger und grundlegender Bestandteil unserer täglichen Arbeit. Wir sind überzeugt, dass nur eine breite Bewegung, die in der Lage ist sowohl auf der politischen als auch der operativen Ebene auf die Kriminalisierung von Geflüchteten und ihren Verbündeten zu reagieren, unsere Gesellschaft nachhaltig verändern kann!

In den vergangenen Monaten hatten wir das Glück, Kontakte und Gespräche mit Aktivist*innen und Freiwilligen zu führen, die sich seit Jahren für die Rechte von Strafgefangenen einsetzen. Die Kontakte, welche wir im Laufe der Zeit knüpfen konnten, reichen von Freiwilligen aus der katholischen Kirche bis hin zu Verfechter*innen der Abschaffungsbewegung. Wir hatten die Gelegenheit, viele unserer neuen Genoss*innen auf der Veranstaltung "La prigione e la piazza" von Napoli Monitor (unser Interview mit Napoli Monitor könnt ihr hier lesen) zu treffen. Bei der Veranstaltung kamen sowohl Menschen aus Nord- als auch Süditalien zusammen, um gemeinsam die Gewalt und den Machtmissbrauch anzuprangern, den auch wir in den letzten zwei Jahren in Gefängnissen sowie den CPRs beobachten konnten. Zudem wurden Bücher und Texte vorgestellt, welche zu einem neu gestalteten und radikaleren Diskurs zum Thema der Kriminalisierung beitragen werden.

Im Zuge unseres fortlaufenden Kampfes gegen das europäische Grenzregime waren wir auch auf Malta vertreten, um die Kampagne der El Hiblu 3 zu unterstützen. Die El Hiblu 3, drei junge Männer aus Westafrika, wurden in Malta dafür angeklagt, ihr eigenes Leben und das anderer Geflüchteten, mit denen sie Libyen zuvor verlassen hatten, gerettet zu haben. Wir waren stolz, bei dieser Gelegenheit eine Videobotschaft von einem der Angeklagten im Fall Vos Thalassa überbringen zu können, der seine Solidarität mit allen vom maltesischen Staat kriminalisierten Migrant*innen bekundete. Ende Mai fuhren wir zudem nach Matera zum Sabir-Festival von Arci, bei dem wir gemeinsam mit Kolleg*innen von Alarm Phone, Migreurop, ResQ, Baobab, Sea-Watch und vielen weiteren Aktivist*innen an Diskussionen über die Kriminalisierung von NGOs und Bootsfahrer*innen teilnahmen.

Wir konnten Kontakte zu aktivistischen Netzwerken in Frankreich herstellen und gaben sogar ein Interview in der Zeitschrift Politis. Darüber hinaus wurde unsere Arbeit wir in enem Artikel von Deutschlandfunk erwähnt.

Nicht zuletzt möchten wir auch der Band Ottoni a Scoppio dafür danken, uns zu ihrer Konferenz eingeladen zu haben, welche anlässlich des Freispruchs von zwei ihrer Mitgliedern in Mailand organisiert wurde. Dies war eine weitere wunderbare Gelegenheit, gleichgesinnte Gruppen zu treffen und neue Dialoge in Norditalien aufzubauen.
Abschließend möchten wir unsere Solidarität mit den Besatzungen von Iuventa, Ärzte ohne Grenzen und Save the Children zum Ausdruck bringen, deren gerichtliche Voruntersuchung Ende Mai in Trapani stattfand. Wir sind mit Euch!

Kontakt: dalmarealcarcere@arci.it