21.12.2023

Kreta: Vermeintlicher Bootsfahrer in Berufungsprozess freigesprochen, nachdem er in erster Instanz zu 155 Jahren Haft verurteilt worden war.

Im September 2021 versuchte Younes zusammen mit mehr als 150 anderen Menschen auf einem Boot die EU zu erreichen. Als sie in der Nähe der griechischen Gewässer in Seenot gerieten, griff Younes ein und versuchte, sich und die anderen vor dem Ertrinken zu retten.Nachdem sie gerettet und nach Griechenland gebracht worden waren, wurde Younes beschuldigt, Teil der Crew zu sein, die die Reise organisiert hatte und wegen Beihilfe zur "unerlaubten Einreise anderer" (Schmuggel), "Gefährdung von Menschenleben" und "Tod" angeklagt. Nachdem er in erster Instanz zu 155 Jahren Haftverurteilt worden war, fand am 7. Dezember 2023 auf Kreta ein Berufungsprozess statt, bei dem er freigesprochen wurde.

Was war geschehen?

Younes, ein afghanischer Staatsangehöriger, machte sich zusammen mit 152 Personen (23 Frauen, 82 Männern, 48 Minderjährigen) von Istanbul aus auf den Weg in Richtung Smyrna, Türkei, von wo aus sie mit dem Boot nach Süditalien fahren wollten. Die Menschen wurden auf ein blaues Holzboot gebracht, welches bereits beim Ablegen in einem schlechten Zustand war.

Das Schiff war etwa drei Tage lang auf See - währenddessen waren die Menschen im Laderaum eingesperrt und hatten keinen Zugang zu Essen und Trinken. Am dritten Tag, etwa 90 Seemeilen westlich von Kreta, fiel dann der Motor aus, und das Boot begann sich mit Wasser zu füllen. Stundenlang versuchten die Menschen alles, um das Wasser aus dem Boot schöpfen und es damit vor dem Sinken zu bewahren. Etwa 20 Stunden später kam das Tankschiff "Aristophanes" zufällig vorbei.

Nach Angaben der Besatzung der Aristophanes versuchten die Menschen an Bord, auf sich aufmerksam zu machen, indem sie Gegenstände anzündeten, um Rauch zu erzeugen, mit Spiegeln Zeichen gaben, winkten und um Hilfe riefen. Die Besatzung des Tankers Aristophanes bat das Hellenic Centre for Research and Disposition um die Erlaubnis, sich dem Schiff zu nähern und eine Rettungsaktion durchzuführen. Diese  wurde erteilt.

Am 24.09.2021 wurde das Boot dann von dem Tanker in den Hafen von Paleochora auf Kreta gebracht, wo die Hafenbehörde eine erste Untersuchung des Vorfalls durchführte. Daraufhin wurden zwei afghanische Staatsangehörige (darunter Younes) und ein kurdischer Staatsbürger als vermeintliche "Crewmitglieder" identifiziert. Ein türkischer Staatsangehöriger wurde als vermeintlicher "Kapitän" ausgemacht. Alle vier wurden wegen "unerlaubter Einreise anderer Personen" (Schmuggel), "Gefährdung von Menschenleben" und "Tod" angeklagt (Artikel 30 des Gesetzes 4251/2014 Absätze a,b,c).

In der ersten Instanz sprach das Gericht eine der Personen frei, während Younes und die beiden anderen zu jeweils 155 Jahren Gefängnis verurteilt wurden.

Letzte Woche fand Younes Berufungsverfahren auf Kreta statt. Der Strafverteidiger, Spyridon Pantazis, der sowohl die freigesprochene Person als auch Younes vertrat, gab die folgende Erklärung ab:

"Am 13. September 2022 vertraten wir S.R. vor dem Berufungsgericht in Chania, Kreta, der nach einem Jahr ungerechtfertigter Inhaftierung einstimmig und rechtskräftig freigesprochen wurde. Dies war ein wichtiger Sieg für die Menschenrechte in Griechenland, da einem zu Unrecht angeklagten und inhaftierten Unschuldigen Gerechtigkeit widerfahren ist. Am 7. Dezember 2023, fast 15 Monate später, fand der Berufungsprozess gegen Younes statt. Die fünf Richter*innen des Berufungsgerichts in Chania entschieden über die territoriale Unzuständigkeit der griechischen Strafgerichte in diesem speziellen Fall, da dieser 90 Seemeilen westlich von Kreta stattfand, während die griechische Küstenzone auf 6 Seemeilen von der griechischen Küste begrenzt ist. Heute feiern wir die Freilassung von Younes, aber wir sind auch bestürzt, weil ein unschuldiger Mann mehr als zwei Jahre im Gefängnis saß."

Kontext

Zahlreiche Migrant*innen wurden bereits verurteilt und für Jahre inhaftiert - obwohl sie lediglich versucht haben, sich und andere in Sicherheit zu bringen. Wie wir in diversen Studien bereits dokumentierten, werden solche Anklagen seit Jahren systematisch gegen Migrant*innen eingesetzt. Die Verhaftungen, die oft auf unbegründeten Anschuldigungen basieren, sind willkürlich und die Verfahren verstoßen gegen grundlegende Prinzipien fairer Prozesse. Ohne ausreichende Beweise werden Migrant*innen in der Regel direkt bei ihrer Ankunft verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft gehalten. Wenn ihr Fall schließlich vor Gericht kommt, dauert die Verhandlung im Durchschnitt nur 37 Minuten und führt zu Freiheitsstrafen von 46 Jahren und Geldstrafen von über 332.209 Euro. Derzeit sind mehr als 2.000 Menschen in griechischen Gefängnissen wegen Schmuggel inhaftiert und bilden damit die zweitgrößte Gruppe von Gefangenen in griechischen Gefängnissen.