Griechenland: Weil Mousafir Widerstand gegen einen Pushback leistete, wurde er zu 47 Jahren Gefängnis verurteilt
Gemeinsames Statement von borderline-europe, Can't Evict Solidarity, CPT - Aegean Migrant Solidarity und Mobile Info Team
Am 09. Juni findet der Berufungsprozess gegen den 23-jährigen Mousafir, einen jungen Englischlehrer aus Afghanistan, in Komotini, Griechenland, statt. Er hatte im Oktober 2019 versucht, Griechenland über das Thrakische Meer zu erreichen, als sein Boot Ziel eines Pushback-Versuchs der Behörden wurde. Weil er versuchte, das Frontex-Boot mit einem Metallstock auf Distanz zu halten, wurde er von der Küstenwache als Schmuggler "identifiziert" und wegen Schmuggels zu 47 Jahren und 6 Monaten verurteilt.
***UPDATE: Was niemand erwartet hatte, ist eingetreten: Mousafir, der in erster Instanz zu 47 Jahren verurteilt worden war, wurde vom Vorwurf des Schmuggels vollständig freigesprochen! Die Richter*innen akzeptierten "begründete Zweifel". Dies ist wieder ein Präzedenzfall in unserem Kampf! Er wurde weiterhin des Widerstands gegen die Staatsgewalt für schuldig befunden und erhielt dafür acht Monate, aber da er bereits volle 2,5 Jahre im Gefängnis verbringen musste, wird er entlassen werden! Bislang hat noch kein Gericht "begründete Zweifel" als Argument akzeptiert, schon gar nicht, wenn die Person in erster Instanz für schuldig befunden und zu einer hohen Haftstrafe verurteilt wurde. Dies ist ein wichtiger und spannender Präzedenzfall, den wir genau studieren werden.
So erfreulich die Nachricht auch ist, so absurd sind die Diskrepanzen und Unterschiede in der Rechtsprechung in Griechenland. An einem Ort werden Menschen freigesprochen, an einem anderen werden sie für dasselbe Verbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt. Das muss ein Ende haben. Und, was am wichtigsten ist zu betonen: Hier geht es nicht um Schuld oder Unschuld, sondern um die Entkriminalisierung der Migration und der Beihilfe dazu. Das Überqueren von Grenzen ist kein Verbrechen, das Steuern eines Bootes ist kein Verbrechen, Widerstand gegen einen Pushback st kein Verbrechen, sondern ein Recht! Ein ausführlicher Prozessbericht mit juristischen Details folgt***
Nachdem er von den Taliban Morddrohungen erhalten hatte, verließ Mousafir Afghanistan und versuchte, Europa zu erreichen, um dort Asyl zu beantragen. Zusammen mit 44 anderen Menschen versuchte er im Oktober 2019, das Thrakische Meer im Norden Griechenlands auf einem Gummiboot zu überqueren. Dort wurden sie von einem Boot der griechischen Küstenwache und einem Frontex-Schiff angegriffen. Nach Angaben von Mousafir und anderen Passagier*innen wurden sie angegriffen und hatten Angst, dass sie ihr Schiff versenken würden, da sie bereits zuvor an Land und auf See zurückgepusht worden waren. Mousafir versuchte, ohne Erfolg, das Schiff mit einem Metallstock abzuhalten.
Daraufhin wurde Mousafir von der griechischen Küstenwache als Schmuggler "identifiziert" und verhaftet. Er verbrachte 11 Monate in Untersuchungshaft, bevor er am 08. September 2020 vom Gericht in Thrakien wegen "Beihilfe zur unerlaubten Einreise" von 44 Drittstaatsangehörigen, seiner "eigenen unerlaubten Einreise" und "gewaltsamen Widerstands" zu 47 Jahren und 6 Monaten verurteilt wurde.
Er wurde verurteilt, obwohl die anderen Passagier*innen übereinstimmend aussagten, dass er nicht der Schmuggler, sondern einer von ihnen war, dass sie alle Angst um ihr Leben hatten und dass Mousafir in Wirklichkeit sogar versucht hatte, die Kinder auf dem Boot zu beruhigen, als die Situation eskalierte.
Die einzige Aussage gegen ihn stammt von der griechischen Küstenwache.
Diesen Donnerstag, am 09. Juni, findet sein Berufungsprozess statt. Er hat inzwischen bereits mehr als 2,5 Jahre im Gefängnis verbracht. Seine Mutter, die sich gemeinsam mit seinem Vater und seinen Geschwistern von Afghanistan aus für die Freilassung Mousafirs eingesetzt und uns für Hilfe kontaktiert hatte, wurde inzwischen von den Taliban ermordet. Sein Bruder und seine Schwester halten sich versteckt, versuchen aber immer noch, ihn auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen.
Wie CPT - Aegean Migrant Solidarity, borderline-europe und Deportation Monitoring Aegean dokumentieren, wird die Erhebung solcher Anklagen gegen Geflüchtete, die auf den griechischen Inseln ankommen, vom griechischen Staat seit mehreren Jahren systematisch betrieben. Die Verhaftungen, die diesen oft unbegründeten Anschuldigungen des Schmuggels folgen, sind oft willkürlich, und die Prozesse verstoßen meist gegen grundlegende Standards der Fairness. Ohne ausreichende Beweise werden Menschen in der Regel bei ihrer Ankunft verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft gehalten. Wenn ihr Fall schließlich vor Gericht kommt, dauern die Prozesse im Durchschnitt nur 38 Minuten und führen zu einer durchschnittlichen Strafe von 44 Jahren und Geldstrafen von über 370.000 Euro.
Seit der Verhaftung von Mousafir haben sich die Pushbacks nicht nur fortgesetzt, sondern sogar noch verschlimmert. Ständig kommen neue Berichte und Recherchen ans Licht, die die grausamen Praktiken der Behörden belegen. Bisher wurde noch niemand zur Rechenschaft gezogen.
Für uns ist klar: Das Steuern eines Bootes und das Überqueren von Grenzen sind keine Verbrechen, und erst recht nicht der Widerstand gegen einen Pushback! Das eigentliche Verbrechen ist das von der EU und ihren Partner*innen errichtete Grenzregime entlang der verschiedenen Migrationsrouten.
Wir werden uns weiterhin für Menschen einsetzen, die versuchen, ihre Bewegungsfreiheit auszuüben!
Wir fordern:
• die sofortige Freilassung von Mousafir;
• ein sofortiges Ende der Pushbacks;
• Freiheit für alle, die wegen "boat driving" inhaftiert sind, obwohl es keine Alternative gibt, um die Europäische Union zu erreichen;
• ein Ende der Kriminalisierung von Migration und ein Ende der Inhaftierung von Menschen auf der Flucht!