01.05.2024

From Sea to Prison: Borders Without End

(Erster Quartalsbericht, April 2024)

1. Kontext und Daten

Das Jahr 2024 läuft wie erwartet: Wo sie nur kann, propagiert die Meloni-Regierung Grenzschließungen und die Kriminalisierung von Menschen, die andere in ihrer Bewegungsfreiheit unterstützen. Nach mehreren Abkommen mit Tunesien hat sich Melonis Projekt, die Grenzen zu externalisieren – Teil des neokolonialen “Piano Mattei” – auf Ägypten konzentriert. In Zusammenarbeit mit der Europäischen Union wurde hier ein Abkommen unterzeichnet, das Ägypten 7,4 Milliarden Euro Finanzhilfe verspricht: die kostspieligste Absichtserklärung aller Zeiten. Denn im Gegenzug sollen 200 Millionen Euro zur Bekämpfung von „Schmuggel“ eingesetzt werden, das heißt dazu beitragen, dass Personen, die sich durch Al-Sisis Ägyptenbewegen, aufgehalten und bestraft werden. Das trifft nicht nur viele Ägypter*innen, die derzeit versuchen, das für politische Morde und Entführungen bekannte autoritäre Land zu verlassen, sondern auch die Bewegungen von Geflüchteten aus Palästina.

Doch damit nicht genug – die Bestrebungen der italienischen Regierung reichen noch weiter: Ihre Jagd auf die „rund um den Globus“ verteilten „Schlepper“ hat Meloni bis ins Weiße Haus geführt. Dort schlug sie dem demokratischen Präsidenten der Vereinigten Staaten „eine weltweite Allianz gegen Menschenhändler“ vor, um „illegalen Migrationsbewegungen ein Ende zu setzen“, vor allem in Afrika. Beim G7-Gipfel Ende Juni dieses Jahres in Apulien will sie den Vorschlag eingehender diskutieren.

Aber um was für einen Umfang geht es überhaupt, wenn von einem globalen Krieg gegen Menschenhändler die Rede ist? Glaubt man der Zeitschrift Polizia Moderna, die einmal im Jahr über die Arbeit der italienischen Staatspolizei informiert, wurden 2023 „im Rahmen der Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel gegen 425 Schlepper, Menschenhändler und Mittäter“ Strafverfügungen verhängt. In unserem Monitoring der offiziellen Berichterstattung und gerichtlicher Anhörungen zählten wir 2023 allerdings nur 177 Festnahmen bei Schiffslandungen. Sollten uns wirklich so viele Verhaftungen entgangen sein?

Im Bericht über die Festnahmen im Jahr 2022 schrieb Polizia Moderna, bei der Bekämpfung von irregulärer Einwanderung und Menschenhandel seien 147 Strafmaßnahmen verhängt und zudem 226 „Schlepper“ festgenommen worden, wodurch man auf eine Gesamtzahl von 373 Personen käme, während wir in der Presse 264 Festnahmen zählten. Nahezu zeitgleich verkündete der Vorsitzende der Zentraldirektion Verbrechensbekämpfung (Direzione Nazionale Anticrimine – DNA), 2022 seien 253 Schlepper und 94 Menschenhändler verhaftet worden, also insgesamt 347 Personen. Anfang 2024 dann sprach der Innenminister von insgesamt 550 verhafteten „Schleppern“ in den Jahren 2022 und 2023 – was ca. 200 Festnahmen im Jahr 2023 bedeuten würde.

Abgesehen von der offensichtlichen Inkohärenz dieser Behauptungen, deren Zahlen deswegen so unterschiedlich ausfallen, weil sich auf jeweils andere kriminologische Kategorisierungen beziehen, scheint uns die Formulierung von Polizia Moderna insgesamt ziemlich vage. Wenn die von der Zeitschrift angesprochene Kategorie schlicht sämtliche nach Artikel 12 des Einwanderungsgesetztes (Testo Unico sull’Immigrazione – TUI) angeklagte Personen einschlösse, würde sie nach der hier vertretenen Auslegung nicht nur europäische Aktivist*innen und weitere Personen umfassen, die anderen den Übertritt von Land- und Luftgrenzen ermöglichten, sondern potenziell auch der Korruption bezichtigte Funktionäre und Polizeibeamte sowie eine unbestimmte Anzahl von Personen, die des Menschenhandels beschuldigt werden. Herzuleiten, ob und inwiefern sich die Zahl der Festnahmen von Kapitän*innen im Laufe der letzten Jahre verändert hat, wird somit sehr schwierig. Wer derart uneindeutig beziffert und benennt, will die Zahlen offensichtlich künstlich aufblähen, denn in Wahrheit scheint es, wie unsere Erhebungen zeigen, gar keinen nennenswerten Anstieg der Festnahmen von Bootskapitän*innen in Italien zu geben.

Trotzdem hat sich, wie wir nun zeigen werden, die Situation der in Italien verhafteten Bootsfahrer und Kapitän*innen spürbar verschlechtert. Das liegt an neuen, völlig dystopischen Gesetzen. Durch den mit dem sogenannten Cutro-Dekret eingeführten Artikel 12b / art. 12-bis TUI wird das Mindeststrafmaß für Menschen, die infolge eines Schiffbruchs oder Seenotrettungsfalls angeklagt werden, um ein Vielfaches erhöht. Der nach wie vor aktuelle Versuch, das Aufbegehren in Haft und Abschiebehaft zu einem Strafbestand zu machen (obwohl es schon jetzt sehr hart durch andere Gesetze bestraft wird), verstärkt die Repression in den Gefängnissen. Schließlich wird inzwischen auch „passiver Widerstand gegen Anordnungen“ kriminalisiert. Die Bestrafung des Aufbegehrens gegen Strafe ist ferner Teil der Pläne für das neue Zentrum, in dem die Regierung auf albanischem Territorium nicht-weiße Personen aus Seenotrettungsfällen einsperren will – ein rundum irrsinniges Projekt, das auch eine Gefängnisabteilung umfassen soll.

Obwohl sich aus den jüngsten Entwicklungen ein immer repressiveres und fanatischeres Bild ergibt, fühlen wir uns von den vielen Personen, die trotz allem weiterhin Widerstand leisten, Grenzen überqueren und jedem Rädchen dieser Repressionsmaschine die Stirn bieten, nachhaltig bestärkt und ermutigt. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit sind und bleiben eine Inspiration, für die wir unermüdlich gemeinsam kämpfen wollen.

2. Geldstrafen: Kriminalisierung ohne Ende

Schon oft haben wir die übertriebenen Strafen angeprangert, die über Kapitän*innen nach Artikel 12 des TUI verhängt werden. Bis zu dreißig Jahre Haft kann man allein für die Führung eines Bootes kassieren – mit dem Cutro-Dekret wurden neue Spitzenwerte erreicht.

Zusätzlich zur Haftstrafe sieht Artikel 12 extrem hohe Geldstrafen vor, die nach einer ziemlich hinterhältigen Formel berechnet werden: Jede transportierte Person bedeutet 15 000 Euro Strafe, Richter*innen haben keinerlei Handlungsmarge. Einige Personen, die wir begleiten, sollen 200 000 Euro Strafe zahlen und müssen sich dabei noch glücklich schätzen, weil die Strafe für viele andere bei 2 Millionen Euro liegt. Im schlimmsten uns bekannten Fall wurde ein in Apulien lebender syrischer Kapitän zu 14 Millionen Euro Geldstrafe verurteilt.

Angesichts der Gefängnisjahre wirken Geldstrafen zunächst oft zweitrangig. Sie sind nicht so unmittelbar und außerdem wissen alle – Gericht und Staatsanwaltschaft inklusive –, dass derart hohe Summen niemals bezahlt werden können, erst recht nicht von Menschen, die gerade erst in Italien angekommen sind.

Trotzdem sind Geldstrafen leider nicht einfach nur Zahlen in einem Urteilsschreiben. Wer irgendwann endlich Licht am Ende des Tunnels sieht, weil die Entlassung bevorsteht und eine Abschiebehaft abgewendet werden konnte; wer dann eine Aufenthaltserlaubnis bekommt und sogar eine Arbeit annimmt; jede Person, die nach einer Verurteilung endlich wieder auf freiem Fuß ist und auch auf bürokratischer Ebene existieren könnte, muss immer noch mit der Geldstrafe rechnen. Nach Jahren präsentiert ihr der Staat buchstäblich die Rechnung.

Wir haben erlebt, wie das Finanzamt Betroffene sechs Jahre nach ihrer Urteilsverkündung dazu aufforderte, umgehend eine Geldstrafe zu zahlen – und zwar in voller Höhe, Tausende, wenn nicht gar Millionen von Euros. Was aber passiert, wenn nicht bezahlt wird, nicht bezahlt werden kann? Dann wird eben der Arbeitslohn einbehalten – was bei derart hohen Strafen zwangsläufig das ganze Leben dauern muss. Außerdem soll die Staatsanwaltschaft nach mehreren vergeblichen Mahnungen das Überwachungsgericht dazu veranlassen, die Geldstrafe in „überwachte Freiheit“ umzuwandeln – eine höchst übergriffige Maßnahme, bei der die Betroffenen ihren Wohnort nicht verlassen dürfen und jeden Tag bei der Polizei vorstellig werden müssen.

All das sind untrügliche Anzeichen einer fortschreitenden, schier grenzenlosen Kriminalisierung und Freiheitsberaubung der Personen, die nach Artikel 12 verurteilt worden sind. Gemeinsam mit den Anwält*innen unseres Netzwerks versuchen wir, Verteidigungsstrategien zu entwickeln, die wenigstens den Schaden für die Betroffenen begrenzen und ihnen erlauben, das Urteil irgendwann hinter sich zu lassen und ohne den belastenden Schatten der Strafe wieder in die Zukunft zu schauen.

3. Laufende Prozesse

Wir verfolgen und begleiten die Rechtsfälle von über 100 Personen, die wegen Beihilfe zur irregulären Einwanderung angeklagt oder verurteilt worden sind. Über die Hälfte von ihnen sitzt aktuell im Gefängnis. Aus Datenschutzgründen können wir Verfahrensdetails nur selten öffentlich machen. Außerdem richten wir uns stets nach dem Willen der Betroffenen und dem Rat ihrer Anwält*innen. Unter dieser Voraussetzung können wir hier dennoch von ein paar Fällen berichten, über die es bereits eine umfangreiche Berichterstattung gibt oder bei denen uns die Betroffenen selbst die Erlaubnis erteilt haben, ihre Geschichte zu verbreiten.

Maysoon Majidi und andere Kapitäninnen

Die Inhaftierung der kurdisch-iranischen Aktivistin Maysoon Majidi – angeklagt wegen der Führung des Schiffes, mit dem sie Ende 2023 unterwegs war – hat europaweit Schlagzeilen gemacht und politische Instanzen, lokale Bewegungen (z.B. Collettivo Medusa) und internationale NGOs (Amnesty International, HANA) zu Solidaritätsbekundungen veranlasst. Zwei Monate vor Maysoon Majidi wurde Marjan Jamali verhaftet, ebenfalls Iranerin. Im Gefängnis wurde sie, deren Namen die Behörden gemeinhin mit Maryam Qaderi transkribierten, von ihrem kleinen Sohn getrennt. In einem Brief erzählte sie uns, wie belastend diese Trennung für sie ist. Die Prozesse von Maysoon und Marjan stehen beide erst am Anfang – die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Auch Vertreter*innen der parlamentarischen Linken haben sich für die Verteidigung dieser beiden Frauen eingesetzt (insbesondere Laura Boldrini und Marco Grimaldi).

Natürlich schließen wir uns der von ihnen bekundeten Solidarität mit Maysoon und Marjan an. Außerdem unterstreichen wir, dass die beiden Iranerinnen leider nicht die ersten Frauen sind, die unter dieser Anklage in Italien inhaftiert wurden. Vor einem Jahr berichteten wir von der Festnahme der beiden Frauen E. und T., russischer und ukrainischer Staatsangehörigkeit. E. ist immer noch in Haft, während T. ihre Strafe abgesessen hat und nun in einer palermitanischen Einrichtung lebt. Allen Frauen in dieser und ähnlichen Situationen gilt unsere Solidarität, nicht zuletzt in Gedanken an die Schwierigkeiten, die sie als Frauen im italienischen Strafvollzug erleiden müssen.

Die drei sudanesischen Kapitäne in Neapel

Auch vom Fall der drei sudanesischen Männer, deren Boot im August 2023 von einem NGO-Schiff gerettet wurde, möchten wir berichten. Sie wurden sofort bei der Landung des Schiffes in Neapel festgenommen. Heute stehen wir mit ihnen in brieflichem Kontakt und sind mit ihren Anwältinnen sowie der Clinica Legale Roma 3 vernetzt, die deren Arbeit unterstützt. Wie so oft wird im Fall der drei Männer das Recht auf Verteidigung verletzt, weil ihnen kein*e Dolmetscher*in für ihre Muttersprache Dinka zur Verfügung gestellt wird. Dementsprechend schwer fällt es ihnen zu verstehen, was gerade in ihrem Verfahren passiert. Nach unzähligen Verzögerungen läuft inzwischen das erste Verfahren; die drei befinden sich weiterhin in Untersuchungshaft. Mit vereinten Kräften hat das neapolitanische Netzwerk nun in den letzten Tagen erwirkt, die Haft in Hausarrest umzuwandeln.

Die drei Palestinänser in Catania

Vor einem Jahr traten drei Gefangene, Bürger aus Gaza, in einem Gefängnis in Catania in den Hungerstreik, um ihre Unschlud zu beweisen. Sie waren aufgrund eines Vergehens nach Artikel 12 TUI ( den Bestimmungen über die Einreise, den Aufenthalt und die Ausreise in das - und aus dem Territorium des italienischen Staates) unter Anklage gestellt worden. Heute sind sie eindlich aus der Haft entlassen worden. Sie befinden sich nun in einer Pfarrei in Hausarrest und tragen eine elektronische Fussfessel. Das Strafverfahren gegen sie läuft jedoch weiter, und die Möglichkeit einer Verurteilung ist nicht ausgeschlossen. Wir verfolgen den Prozess genau und arbeiten mit ihren Anwält*innen zusammen, während wir gleichzeitig wir mit ihnen in Briefkontakt stehen. Mit einigen Familienangehörigen haben wir telefoniern können, jedoch gelten diese zur Zeit leider als vermisst, auf Grund der Folgen des von der israelischen Regierung geführten Krieges im Gazastreifen.

Die fünf Angeklagten von Cutro

Mehr als ein Jahr ist auch seit der Schiffskatastrophe von Cutro vergangen, bei dem die systematische Verletzung der Rettungspflichtdurch die italienischen Behörden den Tod von 105 Menschen zur Folge hatte. Natürlich ist die Verantwortung für diese Katastrophe bei den staatlichen Behörden zu suchen, da diese die Grenzen schliessen und dadurch die Menschen auf dem Meer sterben lassen. Dennoch kündigte die Regierung Meloni nur einen Tag nach dieser Tragödie eine Reihe von Maßnahmen an, die die Anti-Migrationspolitik der Regierung und die Kriminalisierung der Bootsführer*innen weiter verschärfen. Wir arbeiteten mit Anwält*innen und Aktivist*innen von Arci zusammen, um ein Dokument zu erstellen, das die Klage über ‘unterlassene Hilfeleistung’, die ‘politischen und praktischen Forderungen’ der Überlebenden und der Familien der Opfer, sowie den Prozess gegen die fünf als "Bootsführer" angeklagten Überlebenden zusammenfasst.

Kurz vor dem ersten Jahrestag des Unglücks ist Gun Ufuk - ein 26-jähriger türkischer Staatsbürger, der die Funktion des Bordmechanikers der Summer Love übernommen hatte - in einem abgekürzten Verfahren zu 20 Jahren Haft und zu einer Geldstrafe von 3 Millionen Euro verurteilt worden. Die Verpflichtung zur Entschädigung der Zivilparteien, darunter auch der italienischen Regierung, wurde ebenfalls bestätigt. In seiner Aussage vor Gericht sprach Gun Ufuk über den Tod seines Freundes Bayram, des Kapitäns, der mit seinem Boot unterging, ebenfalls ein Opfer des untätigen Verhaltens von Frontex und der Guardia di Finanza. Er berichtet, wie er ans Ufer schwimmen musste, um sich zu retten.

Das ordentliche Verfahren gegen Khalid, Hussain und Sami, die über ihre Leiden im Gefängnis schreiben, geht weiter; Khalid hatte zudem einem anderen Gefangenen Hilfe geleistet, der versucht hatte Selbstmord zu begehen. Am 7. Mai beginnt ein dritter Prozess gegen Mohamed, der sich für das verkürzte Verfahren entschieden hat. Nach fast einem Jahr im Gefängnis hat er endlich von seinem Vater in Syrien gehört, der seit dem Schiffbruch nichts mehr wusste, über das Schicksal seines Sohnes. Wir warten auch auf Nachrichten über den Abschluss der laufenden Ermittlungen durch die Anti-Mafia-Behörde von Catanzaro. All dies sind Verfahren, die Energie und Aufmerksamkeit von der Strafverfolgung ablenken, die sich mit der Verantwortung des Staates und der Grenzschutzbehörde Frontex befassen sollte.

Fälle von Artikel 12-bis

Wir berichten über zwei laufende Verfahren, die wir in Bezug auf den Artikel 12-bis verfolgen. Es geht um neun Angeklagte – zwei vor dem Gericht in Reggio Calabria und sieben vor dem Gericht in Locri. Sie stehen unter Anklage aufgrund des Artikel 12-bis: "Tod oder Körperverletzung als Folge von Straftaten der illegalen Einwanderung". Dieser Artikel wurde als Folge des "Cutro- Dekrets» im März 2023 eingeführt. Allerdings haben die Richter die vorgelegten Fragen zur Verfassungsmäßigkeit bereits als unzulässig eingestuft. Wir stehen in beiden Verfahren in Kontakt mit einigen der Inhaftierten, denen Mindeststrafen von acht Jahren und sechs Monaten drohen - das Doppelte der Mindeststrafen für ähnliche Fälle vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzesdekretes. Wir korrespondieren mit ihnen und stehen in Kontakt mit ihren Angehörigen in Europa und Afrika, um sie auf dem Laufenden zu halten und ihnen Mut zu machen, während sie auf ein Urteil warten.

Antrag auf Revision für die "Libyschen Fußballspieler"

Es wäre noch von unzähligen anderen Schicksalen, von Kämpfen, von Siegen und Niederlagen zu berichten. Von all diesen wollen wir hier acht junge Männer in Erinnerung rufen, die sogenannten «libyschen Fußballspieler», die im August 2015 inhaftiert worden waren, nachdem sie das als “Massaker des Ferragosto” bekannte Schiffsunglück überlebt hatten. Die acht Männer, damals im Alter zwischen 18 und 19 Jahren, wurden zu 20-30 jährigen Haftstrafen verurteilt und versuchen bis heute, ihr Unschuld zu beweisen. Im Januar haben einige von ihnen mit ihren Anwältinnen einen Antrag auf Überprüfung ihres Prozesses gestellt. Der Prozess war von Ungenauigkeiten und Fehlern auf vielen Ebenen geprägt. Wir hoffen, dass diesem Antrag stattgegeben wird und dass die Kriterien, nach denen die letzten zehn Jahre in Gefangenschaft festgelegt wurden, überprüft werden. In der Zwischenzeit warten diejenigen unter ihnen, von denen wir in letzter Zeit gehört haben, immer noch auf Neuigkeiten über ihre mögliche Auslieferung an Libyen. Einer von ihnen sagt: "Nach acht Jahren und vier Monaten grausamer Ungerechtigkeit möchte ich endlich einmal etwas zu unseren Gunsten sagen. Es stimmt, die Gefängnisse in Libyen sind schlimm - in einer Zelle für vier Personen sitzen fünfzig Häftlinge, es wird gefoltert, es gibt keine Schulen, keine Arbeit... aber all das wäre erträglich, wenn ich endlich meine Familie sehen und umarmen könnte, glaubt mir."

Vom Meer ins Gefängnis und von dort in die Abschiebehaft (CPR), zurück zum Anfang

In unserem letzten Bericht erzählten wir auch von M., Schiffskapitän aus Tunesien, dessen Haftstrafe voraussichtlich Anfang April enden sollte. Mit Bestürzung müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass M. (nach drei Jahren freundschaftlichem Briefkontakt und zwei Jahren der Bemühungen, ihm Zugang zu alternativen Massnahmen und eine Freilassung zu erwirken) direkt aus dem Gefängnis in die Abschiebehaft gebracht wurde, wo er gezwungen wurde, eine Verzichtserklärung zu seinem Asylantrag zu unterschreiben. M. konnte in dieser Phase nie direkt mit uns kommunizieren, da die Anrufe, die er von der Telefonzentrale in Pian del Lago aus tätigte, auf unserer Leitung nicht zu hören waren. Allerdings gelang es ihm, mit seinem Cousin zu sprechen (der heute auf freiem Fuß und in Italien lebt). M. erklärt, dass er keinen weiteren Tag in Haft aushalten könne, dass er keine Hoffnung habe, in Italien ein neues Leben zu beginnen, und dass die Abschiebehaft noch unerträglicher sei als das Gefängnis, in dem er die letzten fünf Jahre verbracht hatte. Inzwischen ist er in Tunesien angekommen. Wer hätte damit gerechnet, dass M. bei seinem Versuch, ein autoritäres Regime und eine tiefe wirtschaftliche und politische Krise hinter sich zu lassen, auf ein ebenso bedenkliches Umfeld stoßen würde: die italienische "Justiz".

Freisprüche

In diesem düsteren Szenario von Inhaftierungen und Verfolgungen gelingt es uns manchmal, Siege zu feiern, oft nach jahrelanger Arbeit von Anwält*innen und der Unterstützung durch solidarische Menschen. Momodou Jallow aus Guinea, der 2017 verhaftet und zu vier Jahren und acht Monaten Gefängnis sowie zu einer Geldstrafe von zwei Millionen Euro verurteilt worden war, wurde vom Berufungsgericht in Catania freigesprochen. Er lebt nun in Freiheit zusammen mit seiner Frau. Shami Mohamed, ein geflüchteter syrischer Staatsangehöriger, der 2022 in Roccella aufgegriffen und ursprünglich zu vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden war, wurde vom Berufungsgericht in Reggio Calabria auf Antrag der Staatsanwaltschaft ebenfalls freigesprochen. Wir informieren zudem über den Freispruch ersten Grades von drei gambischen Staatsbürgern, die in Ragusa vor Gericht standen. Zwei der verurteilten Personen wurden wegen Notstand freigesprochen, der andere, weil er die Tat nicht begangen hatte. Ebenfalls in Ragusa hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen zwei somalische Staatsbürger, die von Maersk gerettet wurden, eingestellt - auch diese Fälle betreffen Menschen, die Italien 2017 erreicht haben.

4. Das transnationale Netzwerk

"Sea Taxis"

Am Freitag, den 19. April, wurden in Trapani die nicht enden wollenden Vorverhandlungen im Prozess gegen die NGOs, die Seenotrettungsaktionen durchführen (unter ihnen auch die Iuventa), abgeschlossen. Ihnen wird unter anderem Art. 12 TUI, Beihilfe zur "illegalen" Einwanderung, vorgeworfen. Nachdem der italienische Staat Millionen von Euro für Scheinuntersuchungen ausgegeben hatte, beantragte die Staatsanwaltschaft selbst, um ihr Gesicht zu wahren, die Einstellung des Verfahrens: Der Sachverhalt stelle aufgrund der Gutgläubigkeit, mit der er ausgeführt worden sei, keine Straftat dar. Der Staatsanwalt ging noch weiter und gab dem Antrag der Verteidigung das Verfahren einzustellen statt, eben weil der Tatbestand nicht erfüllt ist, d. h., weil das Verhalten der Nichtregierungsorganisationen keine Straftat ist.

Dieser Prozess und die ihm zugrundeliegenden Ermittlungen gaben rassistischen politischen Argumentationen Auftrieb, die dazu beitrugen, dass nicht einmal ein Jahr später eine Regierung aus populistischen und rechtsextremen Parteien an die Macht kam, die die Rettungsschiffe als "Taxis auf dem Meer" und "Freunde der Schlepper" bezeichnen. Nach der jahrelangen Kriminalisierung von Migrant*innen als "Schleuser" wird dieselbe Straftat gegen die Rettungsaktivist*innen verwendet, wodurch deren Leben beträchtlich beeínflusst wird und Rettungsoperationen blockiert werden, mit der Folge, dass noch mehr Menschen im Meer ertrinken.

Wir hoffen, dass die Justiz in einem nächsten Schritt die politischen Hintergründe dieses Verfahrens, welches groteskerweise fünf Jahre nach dem Antrag der Verteidigung auf Einstellung des Strafprozesses jetzt beendet wurde, untersuchen wird. Wir erhoffen uns auch, dass wir weiterhin für die Freiheit all derer kämpfen können, die aufgrund der Überwindung von Landesgrenzen angeklagt und inhaftiert sind und darum solchen düsteren wie langwierigen und politisierten Prozessen ausgeliefert sind.

Wir möchten an dieser Stelle den großen Wert der Arbeit der Iuventa-Crew hervorheben, die die Kapitän*innen der anderen Schiffe nie vergessen hat; ebenso die hervorragende Arbeit der Strafverteidiger*innen, die versucht haben, den Artikel 12 des Einwanderungsgesetztes (Testo Unico sull’Immigrazione – TUI) auf juristischer Ebene zu dekonstruieren; wir betonen die Arbeit desECCHR, des Europäischen Zentrums für Verfassungs- und Menschenrechte, das den Prozess überwacht und den Fall aufmerksam verfolgt und wir denken an das grossartige Netzwerk der Solidarität, das in diesem Kampf geschaffen wurde.

Libyen, Malta, Griechenland

Migrant*innen aus Libyen werden nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa kriminalisiert. Im Vereinigten Königreich wurde Ibrahima Bah, ein junger Mann aus dem Senegal, letzten Monat zu neun Jahren Gefängnis verurteilt, weil er gezwungen worden war, ein Boot über den Ärmelkanal zu steuern; Captain Support UK’ unterstützt ihn bis zum Ausgang seines Berufungsverfahrens.

In Malta wird eine weitere Vorverhandlung abgehalten im Prozess gegen die "El Hiblu 3" – es geht um drei Teenager aus Westafrika, die 2019 verhaftet worden waren, weil sie angeblich ihre eigene illegale Abschiebung nach Libyen zusammen mit anderen Personen, mit denen sie unterwegs waren, verhindert hatten. Im Mai wird der Richter eine wichtige Entscheidung über die territoriale Zuständigkeit treffen, da die Ereignisse in libyschen und internationalen Gewässern stattfanden.

Nächsten Monat findet in Griechenland auch der Prozess gegen neun ägyptische Staatsangehörige statt. Die neun Angeklagten waren im Juni 2023 an Bord eines Fischerbootes, das aus Libyen abgefahren ist, Bei einer schlecht organisierten Rettung durch die griechische Küstenwache kamen 500 Menschen ums Leben. Es wurde eine Spendenkampagne für die Prozesskosten gestartet.

Ebenfalls in Griechenland fand gestern in Thessaloniki die erste Berufungsverhandlung von Homayoun Sabetara statt, einem Geflüchteten aus dem Iran, der 2021 festgenommen wurde, weil er mit einem Auto über die türkische Grenze nach Griechenland gefahren war. Seitdem ist er im Gefängnis, während seine Töchter in Deutschland und Unterstützer*innen in ganz Europa gegen seine Verurteilung zu einer 18-jährigen Haftstrafe kämpfen. Über diese und andere Kampagnen kann man sich auf der neuen Website von Captain Support, dem transnationalen Netzwerk, zu dem wir gehören, auf dem Laufenden halten.

Italien

Der Oscar-nominierte Film "Io Capitano" war nicht nur in Italien ein wichtiges Sprungbrett, um die Verfolgung von Menschen auf der Flucht zu beleuchten, die beschuldigt werden, als Schleuser zu fungieren. Es fanden Vorführungen unter der Leitung von Aktivist*innen statt: in Mailand und Padua (mit Sea-Watch und Christian Agbor, dem Vorsitzenden der Ausländerkommission in Padua, der selbst vor Jahren kriminalisiert wurde), in Rom bei Spin Time mit der Legal Clinic Roma 3 und in Caserta in der Casa del Sociale "Mamadou Sy". Für die New York Times haben wir über den Film einen Gastartikel geschrieben. In den letzten Monaten haben wir auch in mehreren aktivistischen Radiosendungen mitgewirkt, darunter Radio Onda Rossa (zusammen mit dem ‘Captain Support’ und anderen Aktivist*innen aus ganz Italien), bei Radio Melting Pot (in den Sondersendungen über Cutro) und Radio Onda Urto (zusammen mit dem Aktivist*innen und Anwält*innen von Iuventa).

Wir möchten uns bei Saving Humans USA bedanken, die uns in der letzten Zeit unterstützt haben: bei den Anwält*innen, die uns auf die von ihnen verfolgten Fälle aufmerksam gemacht und sogar Urteile zur Verfügung gestellt haben und bei den vielen Aktivist*innen, die uns bei der Übersetzung von Briefen helfen und die Familien der Inhaftierten anrufen.


 

Vom Meer ins Gefängnis’

ein Projekt von Arci Porco Rosso und borderline-europe

Titelbild: Aktivist*innen des Netzwerks Captain Support vor dem Gericht in Trapani,

19. April 2024.

Übersetzung aus dem Italienischen von Laura Strack & Susanne Privitera