Von Tripoli nach Sizilien: Menschenrechtsakivist*innen aus Libyen evakuieren. Eindrücke einer migrationspolitischen Konferenz
Palermo, 18.12.2024 - Trotz des großen Verkehrsstreiks fährt unser Bus am 29. November pünktlich von Palermo nach Mazara del Vallo. Es ist früher Nachmittag und das kleine Küstenstädtchen im Westen Siziliens wirkt an diesem grauen Freitag recht verschlafen. Nach einem schnellen Espresso an der Bar und einem Spaziergang entlang der geschlossenen Rollläden finden wir uns bald im Tagungshaus ein. Eine Wanderausstellung erzählt mit eindrucksvollen Bildern die Geschichten von drei Migrant*innen in Libyen. Einige Teilnehmer*innen scheinen sich zu kennen, hier und da wird enthusiastisch gegrüßt. Eine halbe Stunde später als geplant wird die Konferenz schließlich eröffnet: Mazara del Vallo gelte als Beispiel der gelungenen Integration und kann als Brücke zwischen Europa und Afrika gesehen werden. Der Ort sei der tunesischen Hauptstadt Tunis am nächsten und habe selbst eine jahrhundertelange Migrationsgeschichte, wie wir später in verschiedenen Redebeiträgen lernen sollten.
Als zentraler Akteur tritt zu Beginn der Konferenz der Veranstalter Refugees in Libya auf. Hierbei handelt es sich um eine selbstorganisierte Vereinigung verschiedener Menschenrechtsaktivist*innen, welche zum Großteil selbst eine Migrationsgeschichte durchlebt und es sich daraufhin zur Aufgabe gemacht haben, Menschen in ähnlichen Situationen aktiv zu unterstützen. Anwesend sind des Weiteren Politiker*innen und Journalist*innen, so unter anderem der ehemalige Bürgermeister von Palermo und jetzige EU-Abgeordnete Leoluca Orlando oder der Bürgermeister von Mazara del Vallo, Salvatore Quinci. Neben der Hervorhebung von Mazara del Vallo als multikulturelle Stadt stehen politische Forderungen und persönliche Erlebnisse von Geflüchteten und Aktivist*innen im Vordergrund.
Mahamat Daoud Abdelrassoul, der Vizepräsident von Refugees in Libya, beleuchtet zunächst die Entstehungsgeschichte der Organisation: Im Verlauf von 2021 und 2022 vereinigten sich Geflüchtete in Libyen als Reaktion auf die gewaltvolle Räumung ihrer Siedlungen zu einem friedlichen Protest für Menschenrechte und Freiheit vor dem UNHCR Büro in Tripoli. Dieser wurde jedoch von den libyschen Milizen gewaltvoll aufgelöst, ehe das UN-Flüchtlingswerk reagierte. Die Zustände in Libyen haben sich seither leider nicht maßgeblich verbessert. Außerdem erzählt Daoud Abdelrassoul von seiner eigenen Flucht, welche ihn nach viertägiger Überfahrt von der tunesischen Küste ausgehend nach Lampedusa brachte.
Im Fokus der Podiumsdiskussion stehen im Laufe des Abends Themen wie die öffentliche Wahrnehmung von Migration, welche aus politischem Kalkül häufig als Bedrohung dargestellt werde. Jedoch müsse man laut den Teilnehmenden Migration eher als Chance begreifen. Der negative demographische Wandel Europas werde auf Dauer zum Nachteil der Region führen, weshalb von Migrant*innen wichtige Stellen im Arbeitsmarkt besetzt werden könnten und somit besonders von Abwanderung betroffene Regionen wie Sizilien stark profitieren könnten. Die Entwicklung von Städten wie Mazara del Vallo und Palermo können hierfür als positives Beispiel gewertet werden.
Andere Redebeiträge konzen-trieren sich auf die Ursache der verstärkten Migration. So sei die Weltpolitik und -wirtschaft auf Ungleichheit ausgerichtet, vor allem die Beziehung zwischen Europa und Afrika. Während die europäischen Staaten stark von der Ausbeutung der Ressourcen Afrikas profitieren, müsse in afrikanischen Staaten sogar ein höherer Preis für die eigenen Rohstoffe bezahlt werden als von Europäer*innen. Armut ist die Folge dieser Ausbeutung. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken und einen fairen Dialog ins Leben zu rufen, müsste Europa endlich auf Augenhöhe mit Afrika in Kontakt treten. Denn, so Leoluca Orlando, das Mittelmeer und die angrenzenden Staaten verbinde eigentlich mehr, als dass sie trenne. Der Mittelmeerraum sei ein Mosaik und die Aufnahme von Geflüchteten eine Zurschaustellung von Respekt für dieses Mosaik. Man könne sich hier ein Beispiel an Sizilien nehmen, wo ein Recht auf Aufnahme und Integration vom Parlament festgeschrieben wurde. Leo di Simone, der Leiter des Friedenszentrum und damit Gastgeber der Tagung, erinnert weiterhin an die Gleichheit aller Menschen: Jeder sei Vater, Sohn oder Bruder für jemanden. An diesen Gleichheitsanspruch schließt Lam Magok Biel Ruei von den Refugees in Libya an und fordert den EU-Abgeordneten Orlando direkt dazu auf, jedes Mal, wenn in der EU über Migration gesprochen wird, auch geflüchtete Personen mit an den Tisch zu holen, um mit ihnen auf Augenhöhe zu diskutieren. Ob das tatsächlich passiert, werden künftige Tagungen zeigen.
Nach sechs Stunden inhaltlich intensiver Redebeiträge verlassen wir gegen 20 Uhr den Tagungssaal. Die Eindrücke des ersten Abends bleiben vielfältig, denn die angesprochenen Themen sind sehr viel ausufernder als der Veranstaltungstitel vermuten lässt. Es wird ein holistischer Ansatz zu den verschiedensten Ursachen von Migration und Auswirkung der globalen Ungleichheit diskutiert, welche in ihrer Gesamtheit einen Einblick in die Tragweite der Thematik Migration ermöglichen.
Mit einem Espresso bei derselben Bar starten wir am Samstag mit Neugier in den nächsten Programmpunkt. Nach den politischen Beiträgen des Vorabends geht es nun viel mehr um privates und zivilgesellschaftliches Engagement im Bereich der Seenotrettung, Geflüchtetenhilfe und politischer Arbeit für Bewegungsfreiheit und gegen die Gewalt an Frauen auf der Flucht. So berichten beispielsweise die italienischen NGOs Mediterranea Saving Humans und Maldusa von ihrem Einsatz in der Seenotrettung und dem Erstkontakt auf Lampedusa. Beide beschweren sich über die zunehmenden Einschränkungen ihrer Arbeit durch die italienische Gesetzgebung. Die Hotline für Seenotrettung Alarm Phone ist auch vertreten und pflichtet der Verschlechterung der Situation zu. Wichtig sei es aber, sich der Absurdität der Situation bewusst zu bleiben: Dass Menschen im Mittelmeer sterben, ist vermeidbar! Die Aufhebung des Visaregimes, welches die Bewegungsfreiheit der Mehrheit der Weltbevölkerung so maßgeblich einschränkt, würde eine sichere Mittelmeerüberquerung mit einem Fähr- oder Flugzeugticket beispielsweise ermöglichen.
Neben bekannten Akteur*innen der Civil Fleet wird die Tagung der Refugees of Libya vor allem ein Schauplatz für migrantisch selbstgeführte Gruppen. Ebrima Drammeh zum Beispiel, selbst als Migrant über das Meer nach Europa gekommen, leitet ehrenamtlich eine Hilfshotline für Menschen aus Westafrika. Er erhält rund um die Uhr Anrufe und Nachrichten von Menschen auf der Flucht und versucht mit seinem mittlerweile zwölfköpfigen Team so gut wie möglich Auskunft zu geben oder an verantwortliche Stellen in der Region zu verweisen. Des Weiteren betreibt er unter dem Namen Migrants Situation Info-Kanäle auf Tiktok, Facebook und WhatsApp mit mehreren Tausend Abonnent*innen, auf denen er über Risiken der Routen und aktuelle Geschehnisse informiert. Das Kollektiv The Routes Journal hingegen verfolgt mit seiner Social Media Präsenz vor allem das Ziel, die langen Migrationsrouten und Gefahren, die so viele Menschen auf sich nehmen, in Echtzeit zu dokumentieren und öffentlich zugänglich zu machen. Bilder und Videos aus libyschen Haftzentren bestätigen hier, was Menschenrechtsorganisationen seit Monaten predigen: Tunesien und Libyen sind keine sicheren Herkunfts- und/oder Transitländer! In dem losen Verbund engagieren sich sowohl Menschen auf der Flucht, Geflüchtete in Italien als auch Aktivist*innen und Forscher*innen aus dem Migrationsbereich. Die europäische Partnerorganisation der Menschenrechtsaktivist*innen in Libyen, Alliance with Refugees in Libya, tritt während der Tagung in den Hintergrund. Es sind zwar einige Mitglieder anwesend, die in der Organisation der Veranstaltung mitwirken und ein, zwei Wortwechsel während der Diskussionen führen. Die Aufmerksamkeit richtet sich aber auf die erfahrungsbasierten Aussagen der Migrant*innen selber und ihre Forderungen.
Es ist schon wieder dunkel, als wir abends nach einem Dokumentarfilm über Gewalt an Frauen auf der Flucht das Theater Garibaldi verlassen. Alle Konferenzteilnehmenden sind sichtlich geschafft von dem umfassenden Programm mit den verschiedensten, aber allesamt wichtigen und schwerwiegenden Themenfeldern. Eben weil die politische Situation in Italien, aber auch gesamteuropäisch betrachtet, kaum Optimismus für eine baldige Verbesserung der Situation zulässt, sind Treffen wie diese Konferenz in Mazara del Vallo wichtig. Jede und jeder Teilnehmer*in hat sicherlich eine kleine Erkenntnis oder aber den Kontakt zu einer oder einer*m neuen Verbündeten mitgenommen. Wir haben zwar noch keinen konkreten Plan für die Evakuierung von Geflüchteten aus Libyen schmieden können, aber sicherlich wieder einmal mehr Mut gefasst. Das Gefühl der Gemeinschaft gibt uns die nötige Energie, weiter daran zu arbeiten, dass Migration über das Mittelmeer eines Tages sicher möglich ist und Bewegungsfreiheit zu einer universalen Wahrheit wird. Damit sie einen Platz auf der italienischen, europäischen wie auch internationalen politischen Agenda findet, muss die Bewegung weiter wachsen - und zuhören (lernen). Die Entscheidungsmacht hängt oft in Gremien des globalen Nordens, die Folgen der Politik spürt man aber vor allem im globalen Süden. In dem Sinne wiederholen wir Lam Magok Biel Rueis Forderung: Migrant*innen müssen in migrationspolitische Diskussionen und Entscheidungsprozesse eingebunden werden! Ihre Stimme muss gehört werden. Für die Verstärkung braucht es Konferenzen wie diese in Mazara von den Refugees in Libya auch in anderen europäischen Städten.
Maxie Richter und Malte Schrüfer
borderline-europe, Außenstelle Sizilien