28.04.2024

Berufungsprozess vertagt: Der Fall von Homayoun Sabetara verdeutlicht die systemische Gewalt in Schmugglerprozessen

von Julia Winkler, borderline-europe

Am 23. April 2024 fand die Berufungsverhandlung von Homayoun Sabetara vor dem dreiköpfigen Berufungsgericht von Thessaloniki statt. Nachdem er fast 1,5 Jahre auf die Verhandlung gewartet hatte, musste Herr Sabetara eine weitere Verschiebung um fünf Monate hinnehmen, weil es dem Gericht wieder einmal nicht gelungen war, die Anwesenheit des Hauptbelastungszeugen sicherzustellen. Sein Fall verdeutlicht die systemische Gewalt in Schmugglerprozessen in Griechenland. Betroffen stehen somit vor dem Dilemma, sich entscheiden zu müssen, ob sie ihren Grundrechten Vorrang einräumen, die, wenn sie gewahrt werden, möglicherweise die Grundlage für die Verurteilung zunichte machen würden, oder ob sie unter den gegebenen Umständen so schnell wie möglich das bestmögliche Ergebnis für sich erzielen und dabei ungerechte Urteile und erhebliche Rechtsverletzungen in Kauf nehmen.


Am 22. April, für welchen Tag das Berufungsverfahren ursprünglich angesetzt worden war, versammelten sich Sabetaras Kinder sowie griechische und internationale Unterstützer*innen vor dem Gerichtsgebäude in Thessaloniki und forderten seine Freilassung und ein Ende der Kriminalisierung der Migration. Die Kampagne #FreeHomayoun, die Mahtab Sabetara nach der Verurteilung ihres Vaters in erster Instanz ins Leben gerufen hatte, hatte bereits seit Monaten zu diesem Termin hin mobilisiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte er seit seiner Verhaftung bereits 575 Tage im Gefängnis verbracht. In seinem ersten Prozess am 26. September 2022 war er zu 18 Jahren Haft wegen Schmuggels verurteilt worden, weil er mit sieben anderen Personen ein Auto von der Evros-Grenze ins Landesinnere gefahren hatte. Borderline-europe war auch damals dabei, unterstützte die Familie und dokumentierte den Prozess.

Herr Sabetara hatte jedoch die Prozessnummer 22 erhalten, so dass den ganzen Tag über Ungewissheit herrschte, ob der Prozess überhaupt stattfinden würde, da dies on der Dauer der vorangehenden Prozesse abhing. Als das Gericht um 15 Uhr schloss, ohne bis zu seinem Fall gekommen zu sein, wurde er auf den nächsten Tag verschoben. Seinen beiden Kindern wurde nicht einmal ein kurzer Besuch in seiner Zelle im Gericht gestattet, in der er in der Zwischenzeit untergebracht war. Da Anwält*innen, Familienangehörige und Unterstützer*innen aus verschiedenen Orten innerhalb und außerhalb Griechenlands nach Thessaloniki gereist waren, um an der Verhandlung teilzunehmen, gelang es den Anwält*innen, dass zumindest eine feste Uhrzeit für die Verhandlung am nächsten Tag festgelegt wurde - 12 Uhr am nächsten Tag.

Am Dienstag, dem 23. April 2024, begann der Prozess gegen 12.15 Uhr. Zunächst wurde der Polizeibeamte, der Herrn Sabetara im Jahr 2021 festgenommen hatte, etwa 15 Minuten lang befragt. Er sagte aus, dass sich alle Autoinsass*innen bei der Verhaftung ruhig und kooperativ verhielten, einschließlich Herrn Sabetaras. Auf die Frage, ob er glaube, dass Herr Sabetara die anderen geschmuggelt habe, erklärte er, dass er lediglich bezeugen könne, dass er der Fahrer gewesen sei. In dem Auto wurden außerdem keine Waffen oder Kommunikationsgeräte gefunden. Die Verhaftung von Herrn Sabetara stützte sich ausschließlich auf die Zeugenaussage eines anderen Passagiers, die die Grundlage für seinen Schuldspruch und die Verurteilung zu 18 Jahren Haft im erstinstanzlichen Verfahren darstellte.

Der entscheidende Belastungszeuge wurde jedoch nie vom Gericht geladen. Stattdessen verlas das Gericht im ersten Prozess von Herrn Sabetara einfach dessen schriftliche Aussage. Die Verteidigung von Herrn Sabetara hatte bereits während des erstinstanzlichen Verfahrens umgehend Einspruch gegen diese Praxis erhoben und sich dabei auf einen Verstoß gegen Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention berufen, der das Recht auf ein faires Verfahren garantiert und insbesondere das Recht beinhaltet, Zeug*innen, die gegen den Angeklagten aussagen, ins Kreuzverhör nehmen zu können, vor allem, wenn ihre Aussage ein zentrales oder gar das einzige Beweismittel darstellt, wie im Fall von Herrn Sabetara. Trotz dieser Einwände stützte sich das Gericht 2022 lediglicih auf die schriftliche Erklärung und befand Herrn Sabetara schließlich für schuldig.

Bemerkenswerterweise legte das Berufungsgericht 1,5 Jahre später eine ähnliche Missachtung an den Tag, indem es ebenfalls nicht für die Anwesenheit dieses wichtigen Zeugen der Anklage sorgte und damit seine Verantwortung vernachlässigte, was darauf hindeutet, dass es sich hierbei eher um die Regel als um die Ausnahme handelte. Die Verteidigung wiederholte ihren Einspruch und kritisierte die Verfahrensfehler. Darüber hinaus bestand die Verteidigung darauf, dass Sabetaras eigene Aussage nicht berücksichtigt werden sollte, da er bei seiner ersten Vernehmung keine Übersetzung erhalten hatte. Beide Einsprüche wurden von der Staatsanwaltschaft abgelehnt. Desweiteren argumentierten die Anwält*innen und reichten entsprechende Rechtsprechung anderer Gerichte in Griechenland ein, dass Herr Sabetara aufgrund seines Status als Asylsuchender grundsätzlich nicht wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise kriminalisiert werden sollte.

Offensichtlich überfordert mit und nicht gewähnt an derartige Einsprüche, kündigte das Gericht um 13 Uhr eine einstündige Beratungspause an.



Als die Verhandlung gegen 14 Uhr forgesetzt wurde, herrschte kollektives Entsetzen, als das Gericht nicht seine Entscheidung bezüglich der Berücksichtigung der Zeugenaussage verkündete, sondern stattdessen kündigte seine Absicht, sich bei der Ausländer*innenbehörde nach dem Verbleib des Hauptbelastungszeugen zu erkundigen und den Prozess um weitere fünf Monate, bis zum 24. September 2024, zu verschieben. Dies ist ein Schritt, den bereits das Gericht im September 2022 während des ersten Prozesses hätte unternehmen müssen. Diese Entscheidung stellt eine eklatante Ungerechtigkeit für den Angeklagten dar, da sie seine Haftzeit unnötig um weitere fünf Monate verlängert, ohne dass die Anwesenheit des Zeugen dadurch garantiert ist. Sie unterstreicht das Versäumnis des Gerichts, seiner Pflicht nachzukommen, sowie die ungerechten Grundlage, aufgrund derer Herr Sabetara ursprünglich verurteilt wurde.

Die Verteidigung beantragte daraufhin umgehend die Haftentlassung von Herrn Sabetara unter bestimmten Auflagen bis zum neuen Verhandlungstermin vor; dass er das Verfahren in Thessaloniki abwarten kann und sich regelmäßig bei der Polizei meldet. Dieser Antrag wurde jedoch vom Gericht ohne eine angemessene Bewertung der Situation umgehen abgelehnt.

Systemische Gewalt in Schmugglerprozessen

Der Prozess von Herrn Sabetara verdeutlicht die systemische Gewalt, der Drittstaatsangehörige ausgesetzt sind, die von der griechischen Justiz des Schmuggels beschuldigt werden. Ihre Rechte werden routinemäßig in Prozessen verletzt, die auf fragwürdigen Beweisen beruhen.

borderline-europe hat mehr als 80 Schleuserprozesse in Griechenland dokumentiert und ausgewertet. Die Daten zeigen, dass das, was Herrn Sabetara widerfuhr, eher die Regel als die Ausnahme ist. Die Staatsanwaltschaft stützt sich in der Regel ausschließlich auf die Aussage einer*s Beamte*in der Küstenwache oder der Polizei und/oder auf Aussagen anderer Passagier*innen. Diese Belastungszeug*innen sind jedoch in der Mehrheit der Fälle während des Prozesses nicht anwesend, so dass die Verteidigung keine Möglichkeit hat, sie ins Kreuzverhör zu nehmen. In schockierenden 68 % der dokumentierten Fälle erschienen die Polizeibeamt*innen, die als Zeug*innen gelistet waren, nicht vor Gericht. Noch drastischer sieht es bei den Passagier*innen aus, deren Aussagen in der Regel von entscheidender Bedeutung sind. Sie waren nur in 10 % der Verfahren anwesend. Das Gericht ist seiner Verpflichtung, die Anwesenheit dieser Zeug*innen sicherzustellen, in der Regel nicht nachgekommen. Trotz der von den befragten Anwälten geäußerten Bedenken hinsichtlich der Umstände der Beschaffung von Aussagen anderer Fahrgäste, wie z. B. fehlende Übersetzung oder Nötigung, stützt sich das Gericht in der Regel auf diese schriftlichen Aussagen als ausreichendes Beweismaterial, um Schuldsprüche zu fällen.

In der Regel geschehen diese Verstöße jedoch unwidersprochen. Die strukturellen Bedingungen von Schmugglerfällen in Griechenland erschweren es den Angeklagten und ihren Anwält*innen jedoch in der Regel, gegen diese Rechtsverletzungen vorzugehen. Dies führt häufig zu einer Verschiebung des Prozesses, was für die Angeklagten, insbesondere diejenigen in (Untersuchungs-)Haft, eine große Belastung darstellt. Dies wird durch die Langsamkeit des griechischen Justizsystems im Allgemeinen noch verschärft, so dass eine Verzögerung nicht nur einige Wochen, sondern vielmehr mehrere Monate bedeuten kann. Die Verteidigung steht somit vor dem Dilemma, dass sie sich entscheiden muss zwischen der Priorität der Grundrechte ihrer Mandanten, die, wenn sie aufrechterhalten werden, die Grundlage für die Verurteilung ihres Mandanten zunichte machen würden, und der Notwendigkeit, unter den gegebenen Umständen so schnell wie möglich das bestmögliche Ergebnis für den Mandanten zu erzielen und dabei ungerechte Urteile und erhebliche Rechtsverletzungen in Kauf zu nehmen.

Diese Situation führt nicht nur dazu, dass die meisten dieser Rechtsverletzungen vor den nationalen Gerichten unerwähnt bleiben, sondern macht auch die Weiterverfolgung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von vornherein zu einem schwierigen Unterfangen. Eine der Grundvoraussetzungen für das Tätigwerden des Europäischen Gerichtshofs ist, dass die Verteidigung gegen die Rechtsverletzungen Einspruch erhoben und alle verfügbaren nationalen Rechtsmittel ausgeschöpft hat.

Infolgedessen gibt es einen eklatanten Mangel an Rechenschaftspflicht für diese Verstöße gegen ein fair Verfahren, so dass sie als chronische Probleme fortbestehen. Das Fehlen von Konsequenzen fördert ein Gefühl der Immunität bei den Beteiligten und verschärft die systembedingten Ungerechtigkeiten, denen Drittstaatsangehörige ausgesetzt sind, die des Schmuggels beschuldigt werden.

Im Fall von Herrn Sabetara wurde dieser in erster Instanz gemäß Artikel 30 des griechischen Strafrechts zu sechs Jahren Haft pro transportierter Person ("khatirxi") verurteilt, was nach einer speziellen Berechnung zu einer kumulativen Haftstrafe von 18 Jahren führte. Nach griechischem Recht müsste er mindestens 3/5 dieser Zeit, also etwa 10,8 Jahre, absitzen. Ziel des Berufungsverfahrens ist es, seine Strafe zumindest auf das so genannte "filakisi" zu reduzieren. In Fällen, in denen für jede beförderte Person eine Strafe von bis zu fünf Jahren verhängt wird ("filakisi"), darf die Höchstdauer der Freiheitsstrafe 8 Jahre nicht überschreiten, unabhängig von der Gesamtsumme. Eine bedingte Entlassung ist möglich, wenn 2/5 der Strafe verbüßt sind, was 3,2 Jahren entspricht. Strafmildernde Faktoren können die Dauer der Haftstrafe weiter verringern, ebenso wie die Tatsache, dass die Person im Gefängnis arbeitet.

Herr Sabetara befindet sich seit dem 25. August 2021 in Haft und hätte bei einer Verringerung seiner Strafe auf filakisi bald die erforderliche Mindeststrafe verbüßt. Seine Verteidigung hätte eine Strategie verfolgen können, die sich ausschließlich darauf konzentriert, seine Strafe von khatirxi auf filakisi zu reduzieren, die Rechtsverletzungen des Gerichts hinzunehmen und auf Schuld und Reue zu plädieren - ein üblicher Ansatz in solchen Fällen.

Sie argumentierten jedoch nicht nur, dass die Verurteilung von Herrn Sabetara aufgrund der fehlenden Übersetzung und der Abwesenheit des Hauptzeugen unrechtmäßig war, sondern auch, dass er aufgrund seines Status als Asylbewerber überhaupt nicht kriminalisiert werden sollte. Diese Strategie war nicht nur politisch richtig, sondern trug auch der Ungewissheit des Ergebnisses Rechnung, wenn die Verteidigung keine Einwände erhoben hätte. Ohne diese Einwände hätte das Gericht das Verfahren am 23. April 2024 vielleicht nicht vertagt, aber den khatirxi-Status möglicherweise beibehalten. In einem solchen Szenario hätte Herr Sabetara keine weiteren Möglichkeiten, gegen sein Urteil Berufung einzulegen, außer vor dem Obersten Gerichtshof Griechenlands. Der Oberste Gerichtshof prüft jedoch, wie der EGMR, ausschließlich Verfahrensfehler, die in diesem Fall nicht in der Akte vermerkt wären.

Homayouns Prozess verdeutlicht die systemische Gewalt, der die meisten Drittstaatsangehörigen ausgesetzt sind, die in Griechenland des Schmuggels beschuldigt werden. Sie sind gezwungen, entweder ungerechte Urteile zu akzeptieren oder lange Wartezeiten in Haft zu erdulden - für sie gibt es keinerlei Gerechtigkeit.

Es bleibt abzuwarten, wie das Gericht im September mit der Situation umgehen wird. Wenn der Hauptzeuge der Anklage ausfindig gemacht und von der Verteidigung befragt werden kann, könnte dies möglicherweise eine andere Perspektive zutage bringen und zu einer Neubewertung von Herrn Sabetaras Fall führen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Zeuge nicht anwesend sein wird, was das Gericht dazu zwingen würde, die Aussage, auf der die Verurteilung von Herrn Sabetara beruhte, nicht zu berücksichtigen.

Wir werden H. Sabetara und seine Familie im Berufungsverfahren und in der Zwischenzeit weiterhin unterstützen!

Wir fordern die sofortige Freilassung von H. Sabetara aus dem Gefängnis, Freiheit für alle, die wegen des Fahrens eines Bootes oder Autos kriminalisiert wurden, und ein Ende der Kriminalisierung von Migration und der Inhaftierung von Menschen auf der Flucht!

 


Hintergrundinfo: