06.03.2025

Die Kriminalisierung der sogenannten ´Schlepper´ im Jahr 2024

Projekt „Vom Meer ins Gefängnis“, Jahresbericht 2024 

1. Die Zahlen: Mehr als 100 festgenommene Personen im Jahr 2024

Im Laufe des Jahres 2024 haben wir, wie bereits in den vorherigen Jahren, systematisch die Nachrichten über Verhaftungen von Migrant*innen beobachtet, die der Beihilfe zur irregulären Einwanderung beschuldigt wurden, insbesondere von Personen, die nach der Einreise über das Meer festgenommen wurden. Diese Daten wurden durch zusätzliche Informationen ergänzt, die wir über unser Netzwerk von Anwält*innen gesammelt haben und die uns auf etwa zehn Fälle hingewiesen haben, über die in der lokalen Presse nicht berichtet wurde. Auf Grundlage dieser Quellen haben wir 106 Festnahmen gezählt. Die meisten dieser Festnahmen fanden direkt im Anschluss an die Ankunft statt, in einigen Fällen fand die Festnahme zu einem späteren Zeitpunkt statt. In allen Fällen, bis auf zwei, haben wir auch Informationen zu den Nationalitäten der Festgenommenen.

Grafik: Nationalitäten der sogenannten 'Schlepper*innen', 2024

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(Quelle: Arci Porco Rosso und borderline-europe, Projekt „Vom Meer ins Gefängnis“)

Links: Mittlerer Osten (10%) Afghanistan, Iran, Irak, Syrien, Türkei
           Andere (10%)
           Zentrales Eurasien (12%) Aserbaidschan, Kasachstan, Russland, Ukraine, Usbekistan

Rechts: Ägypten (35%)
             Ost-Afrika (17%) Tschad, Sudan, Süd Sudan, Äthiopien, Eritrea
             Tunesien (16%)

% von 106 Festnahmen

 

Wie auch in den Jahren zuvor wurden 2024 ägyptische Staatsbürger in Italien stärker kriminalisiert als Menschen anderer Nationalitäten: mindestens 37 ägyptische Staatsbürger wurden festgenommen, das sind mehr als ein Drittel aller dokumentierten Festnahmen. Tunesische Staatsbürger waren am zweithäufigsten von Festnahmen betroffen. Auf Grundlage der offiziellen Daten der Ankünfte wurden von den ägyptischen Personen, die über das Meer ankamen, jeweils eine Person von hundert kriminalisiert; bei den tunesischen Personen war es eine von zweihundert.

Insgesamt kamen auf 600 Personen, die Italien über das Meer erreichten, eine Festnahme; eine Anzahl, die etwas höher ist als in 2023 (1 von 800).

Wir beobachten seit 2022 einen Trend, der sich auch im Jahr 2024 fortsetzte: 17% der verhafteten Personen stammen aus Ländern Ostafrikas (Sudan, Südsudan, Tschad, Äthiopien und Eritrea), 12 % hingegen kommen aus dem Zentralen Eurasien. Unter diesen befinden sich Ukrainer und Russen, aber auch kasachische und usbekische Staatsbürger.

10 % der Verhafteten kommen aus dem Mittleren Osten (Türkei, Syrien, Irak, Iran und Afghanistan).

Im Jahr 2024 haben wir keine Bestätigung für Festnahmen von Personen aus Westafrika. Verglichen mit zehn Jahren zuvor stellt sich somit eine völlig andere Situation dar. Soweit uns bekannt ist, sind alle verhafteten Personen Männer.

Grafik: Orte der Festnahmen der sogenannten ´Schlepper*innen´, 2024

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In den Häfen von Syrakus und Pozzallo fanden die meisten Festnahmen auf Sizilien statt, während die Häfen von RoccellaIonica und Crotone die meisten Festnahmen in Kalabrien verzeichneten.

Wenige Verhaftungen wurden auf Lampedusa gemeldet, bei den jüngsten Ankünften in Apulien kam es hingegen (nach einer langen Unterbrechung der Überquerungen auf dieser Route) zu mehreren Verhaftungen in Leuca.

Die Festnahmen in Ravenna, Ancona, Neapel und Salerno spiegeln die repressiven Maßnahmen des Piantedosi-Dekretswider, das den Schiffen der NGOs sehr weit entfernte Häfen außerhalb des zentralen Mittelmeers zuweist.

Etwa drei Viertel der Verhaftungen betrafen Personen, die über die zentrale Mittelmeerroute (d. h. aus Nordafrika) einreisten, während die übrigen Personen die Küsten mit Booten aus der Türkei erreichten, obwohl nur 5% der Migrant*innen über diese Route ankamen. Dies zeigt, dass die Anzahl der Festnahmen auf der Ionischen Route proportional viel höher war.

Wir danken der Clinica Legale von Roma 3, dem Verein Maldusa und ASGI Bari für das Teilen von Informationen über einige der von ihnen betreuten Fälle.

 

2. Die von uns verfolgten Fälle

Derzeit begleiten wir die Fälle von 128 Personen, die unter dem Vorwurf der Beihilfe zur unerlaubten Einreise auf der Mittelmeerroute kriminalisiert werden. 86 von ihnen sind aktuell befinden sich derzeit in diversen Gefängnissen im ganzen Land. Unter den inhaftierten Personen, mit denen wir in Kontakt stehen, sind etwas weniger als die Hälfte (41) Staatsbürger Nordafrikanischer Länder (Tunesien, Ägypten, Libyen, Marokko), während ungefähr ein Drittel (28) aus Ländern des asiatischen Kontinents stammt (darunter Türkei, Mittlerer Osten und Zentralasien). Etwas mehr als die Hälfte der Personen (42) ist auf Sizilien inhaftiert, vor allem in den Provinzen von Agrigent und Palermo. Ungefähr ein Drittel (28) wird in Gefängnissen in Kalabrien festgehalten, während das übrige Fünftel (18) in verschiedenen Gefängnissen im restlichen Italien inhaftiert ist, vor allem aber in Apulien und Kampanien.

Die restlichen 40 Personen sind inzwischen frei – aus unterschiedlichen Gründen: einige, weil ihre Untersuchungshaft während des Prozesses aufgehoben wurde, andere, weil sie für unschuldig erklärt wurden, und wieder andere, weil sie bereits mehrere Jahre im Gefängnis verbracht haben und jetzt, nachdem sie die Strafe abgesessen haben, versuchen, ihr Leben in Europa wieder aufzubauen. Einige von ihnen kehrten in ihre Herkunftsländer zurück, eine Person freiwillig, die anderen durch Zwangsrückführung.

 

3. Wie in einem Film: Italien setzt die Strafverfolgung von Minderjährigen fort

In diesem Jahr waren wir gezwungen, uns erneut mit der Kriminalisierung Minderjähriger als sogenannte Schlepper auseinanderzusetzen. Das Thema des Alters der festgenommenen Personen ist in drei Strafverfahren, die wir sehr genau verfolgt haben, von zentraler Bedeutung gewesen.

Unter diesen wurde jedoch nur ein Fall vor dem Jugendgericht in Palermo verhandelt, und zwar gegen den 17-jährigen Ahmed aus Ägypten, der im Juli wegen Anschuldigung des Artikel 12bis verhaftet wurde. Die beiden anderen Fälle wurden vor den Gerichten für Erwachsene verhandelt.

Tatsächlich hat uns dieses Jahr 2024 mehr denn je daran erinnert, dass die Altersfeststellung nach wie vor ein zentrales Problem in der institutionellen Härte gegenüber Migrantinnen und Migranten darstellt, insbesondere in ihrer Kriminalisierung. Zwei junge Menschen, einer davon ein 2016 verhafteter senegalesischer Staatsbürger, und ein guineischer Staatsbürger, der 2023 im Alter von 16 Jahren festgenommen wurde, waren zum Zeitpunkt ihrer Ankunft minderjährig und wurden verurteilt: einer vom Gericht von Trapani, der andere vom Berufungsgericht von Palermo - beides Gerichte, welche für die Verurteilung Erwachsener zuständig sind. Sie haben sich als Minderjährige vorgestellt, haben offizielle Dokumente erstellen lassen, die ihr Alter bescheinigen, und dennoch bleiben sie für die italienische Justiz Erwachsene und werden als solche behandelt. Einer von ihnen, der 17-jährige Guineer, sitzt heute noch in einem Gefängnis für Erwachsene.

Im Jahr der Veröffentlichung von „Ich Capitano“ („Io Capitano“) - einem Film, der die Reise eines Minderjährigen beleuchtet, der mutig die Verantwortung übernommen hat, andere Menschen über die Grenze zu bringen - zeigt sich, dass die italienische Justiz nicht nur Seydou, den Protagonisten des Films, zu jahrelanger Haft verurteilt, sondern ihm nicht einmal seine Minderjährigkeit zugesteht.

 

4. Artikel 12bis

In diesem Jahr wurden die ersten Prozesse im Rahmen des Artikel 12bis durchgeführt, ein Artikel, der durch das sogenannte Cutro-Dekret neu eingeführt wurde. Dieser Artikel erhöht die vorgesehenen Mindeststrafen für Beihilfe zur unerlaubten Einreise exponentiell, wenn es während der Flucht zum Tod oder schwerer Verletzung einer oder mehrerer Personen kommt. Die ersten, die dieser neue Straftatbestand nach nur einem Monat des Inkrafttretens traf, waren sieben Personen, die in Kalabrien angekommen waren. Zu Beginn des neuen Jahres, nach fast zwei Jahren Untersuchungshaft, gab es ein Urteil in erster Instanz: Das Gericht hat den Artikel 12bis nicht für anwendbar befunden und fünf der sieben Angeklagten freigesprochen. Die restlichen zwei wurden jedoch nach Artikel 12, dem Strafbestand der sogenannten einfachen Beihilfe, verurteilt. Dieser zweifellos positiven Nachricht folgte ein weiteres Urteil des Gerichts von Reggio Calabria im Juli 2024, in dem die Staatsanwaltschaft den Strafbestand des Artikel 12bis zwei Männern vorwarf, welche 2023 verhaftet worden waren. Auch in diesem Fall hat das Gericht diesen neuen Strafbestand für nicht für anwendbar befunden und einen der beiden Männer freigesprochen, während der andere für den Strafbestand des Artikels 12 verurteilt wurde.

Unter diesen Voraussetzungen warten wir nun auf eine Entscheidung in einem dritten ausstehenden Verfahren, dem letzten, das wir verfolgen und über das wir informiert sind.

In diesem Fall wird nicht nur ein ägyptischer Mann, der sich vor dem ordentlichen Gericht von Agrigent einem Strafverfahren stellen muss, angeklagt, sondern auch der oben erwähnte minderjährige Ahmed, dessen Verfahren vor dem Jugendgericht in Palermo verhandelt wird.

Wir nehmen jedoch mit Erleichterung zur Kenntnis, dass die Untersuchungshaft Anfang 2025 durch eine mildere Maßnahme ersetzt wurde und Ahmed in eine betreute Wohngemeinschaft verlegt wurde, obwohl er weiterhin angeklagt ist.

Der Mitangeklagte wartet auf sein Urteil, das für März 2025 erwartet wird. Es muss betont werden, dass Artikel 12bis – noch mehr als Artikel 12 – ein Skandal ist, der sich gegen die Menschen richtet, die Schiffbrüche und maritime Katastrophen überlebt haben, während die institutionelle Verantwortung für diese Ereignisse, wie immer, unberücksichtigt bleibt.

 

5. Der Schiffbruch von Cutro

Im Jahr 2024 wurden die Prozesse in erster Instanz gegen jene Personen abgeschlossen, die nach dem Schiffbruch vor der Küste Cutros im Februar 2023 festgenommen wurden. Die Urteile, die durch die Bank in Schuldsprüchen endeten, reichen von 11 Jahren Haft für Khalid Arslan, einen pakistanischen Staatsangehörigen, über 16 Jahre für Sami Fuat und Hasab Hussain, türkischer und pakistanischer Staatsangehörigkeit, bis zu 20 Jahren für Mohamed Abdessalem aus Syrien und Ufuk Gun aus der  Türkei. Der Mann, der das Boot steuerte, Bayram Guler, kam bei dieser Tragödie ums Leben.

Wir können nicht umhin, die Unverhältnismäßigkeit der Strafen zu betonen, die denjenigen auferlegt wurden, die für die Unterstützung der Überfahrt verantwortlich gemacht wurden, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Straftatbestände der Beihilfe zur unerlaubten Einreise und des Todes als unbeabsichtigte Folge der Beihilfe zur unerlaubten Einreise angefochten worden waren. Außerdem wurde die Höchststrafe von 20 Jahren Freiheitsentzug in einem verkürzten Verfahren verhängt, welches einen Straferlass von einem Drittel, d. h. von zehn Jahren, mit sich bringt. Vergleichbare Strafen kennen wir nur aus Fällen, in denen ein Verbrechen des vorsätzlichen Totschlags zur Last gelegt wird.

In eben jenem Jahr, in dem die erstmaligen Anwendungen oder vielmehr die ersten Versuche der Umsetzung des neuen Straftatbestands nach Artikel 12bis stattfanden (eingeführt mit dem Cutro-Dekret, das Mindeststrafen von bis zu 20 Jahren vorsieht), stellen wir fest, dass die Prozesse im Zusammenhang mit dem Schiffbruch von Cutro faktisch die einzige reale Anwendung einer derart harten Strafe darstellen. Dies gilt, obwohl sich die Verfahren auf Ereignisse beziehen, die vor der Einführung des neuen Strafbestands stattgefunden haben. Die Verurteilung in diesem verkürzten Urteilsverfahren von Ufuk Gun und Mohamed Abdessalem zu 20 Jahren Haft bedeutet letztlich, dass sie das Strafmaß erhalten haben, das mit dem Cutro-Dekret eingeführt wurde, obwohl sie auf der Grundlage und der früheren Gesetzeslage verurteilt worden waren.

Diese Verurteilungen müssen zwangsläufig als exemplarische Strafen für eine Schiffskatastrophe gewertet werden, die sich, im Gegensatz zu unzähligen anderen, in unmittelbarer Küstennähe ereignet hatte. Das wurde nun aufgrund dieser unmittelbaren, erschütternden Sichtbarkeit umgehend von der Regierung politisch instrumentalisiert.

 

6. Freiheit für die sogenannten libyschen Fußballer!

2024 war auch ein wichtiges Jahr für den Fall der so genannten libyschen Fußballer - acht junge Männer im Alter von 18 und 19 Jahren - die 2015 nach dem als ‘Ferragosto-Tragödie’ bekannt gewordenen Ereignis verhaftet und unrechtmäßig zu 20 und 30 Jahren Haft verurteilt wurden.

Im Oktober 2024 wies das Kassationsgericht die Berufung gegen den Entscheid der Unzulässigkeit des von der Verteidigung beim Berufungsgericht von Messina eingereichten Revisionsantrags zurück. Dieser Revisionsantrag beinhaltet neue, möglicherweise entlastende Beweise für die jungen Männer, die in einer vorangegangenen, langwierigen Untersuchung gewonnen wurden. Es ist offensichtlich, dass es sich bei dem Verfahren gegen die acht Männer um ein Schnellverfahren handelt, auch wenn die italienische Justiz sich weigert, dies anzuerkennen und ihnen darum die vom Rechtssystem gebotenen Garantien nicht gewährleistet.

Fünf der jungen Leute, die zu Unrecht als Sündenböcke für den Schiffbruch verurteilt wurden, stammen aus Libyen - darunter Alla Farah, dessen bewegendes Interview letzten Monat von „Fattore Umano“ ausgestrahlt wurde. Leider scheinen die Verhandlungen zwischen Italien und Libyen über die Rückkehr in ihre Heimat - eine Forderung, für die ihre Familien demonstriert und Petitionen eingereicht hatten - ins Stocken geraten zu sein. Anders als der mutmaßliche Kriegsverbrecher Osama Almasri scheinen sie nicht genügend einflussreiche Freunde in der Regierung zu haben, die gewisse Anrufe tätigen und einen Privatjet zur Verfügung besorgen können. Inzwischen haben Alla und die anderen sieben Häftlinge bereits ein Drittel ihres Lebens im Gefängnis verbracht.

 

7. Maysoon Majidi und Marjan Jamali sind frei! (Aber ihre Mitverurteilten nicht)

Im Laufe des Jahres 2024 wurden die Prozesse gegen Maysoon Majidi und Marjan Jamali, zwei iranische Frauen sowie gegen ihre Mitangeklagten Ufuk Akturk und Babai Amir, fortgesetzt. Sie wurden Ende 2023 angeklagt, Menschen auf zwei Booten von der Türkei nach Italien ‘geschmuggelt’ zu haben. Diese beiden Fälle, insbesondere der von Maysoon Majidi, einer feministischen Aktivistin und Filmemacherin aus dem Iran, setzten in ganz Italien Solidaritätsmobilisierungen in Gang und ebenso eine prinzipielle Infragestellung des Straftatbestands der Beihilfe zur unerlaubten Einreise. Ein erstes Ergebnis war, dass das Gericht schließlich bereit war, die Untersuchungshaft aufzuheben und die Angeklagten freizulassen. Am 6. Februar 2025 wurde Maysoon Majidi schließlich in erster Instanz freigesprochen. Ihr Mitangeklagter, Ufuk Akturk, wurde dagegen zu acht Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt, aufgrund der Tatsache, dass er ein Boot mit Geflüchteten sicher an die kalabrische Küste gebracht hatte. Das Verfahren gegen Jamali und Amir ist zum Zeitpunkt der Redaktion dieses Berichts noch nicht abgeschlossen. Das Gerichtsurteil wird für Ende Februar 2025 erwartet. Wir stehen in Kontakt mit Amir, der seine Besorgnis über seinen Prozess sowie seine Solidarität mit dem damit verbundenen Kampf zum Ausdruck bringt.

Auch wenn uns bewusst ist, dass dies gegenwärtig nicht durchsetzbar ist, verlangen wir, dass alle Personen, die wegen ihrer Unterstützung der Freizügigkeit kriminalisiert werden, die gleiche Solidarität erfahren wie Majidi. Unter ihnen möchten wir insbesondere die drei Palästinenser aus Gaza hervorheben, die im Jahr 2023 inhaftiert und im Dezember vom Gericht in Catania zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurden. Zusammen mit ihren Anwälten bereiten sie eine Berufung gegen das Urteil vor.

 

8. Der Kampf geht weiter: auf See, in den Gefängnissen und den Gerichtssälen

Das Jahr 2024 war auch ein Jahr der großen Medienprozesse - vom Iuventa-Verfahren bis zum Prozess gegen den ehemaligen Innenminister Matteo Salvini. In diesen Verhandlungen ging es um Artikel 12 - um die Thematik der Seenotrettung und um das Recht auf Rettung, wenn auch auf unterschiedliche Weise.

Im sieben Jahre dauernden Iuventa-Prozess, in dem die Besatzung der Iuventa sowie Save the Children und Ärzte ohne Grenzen vor Gericht standen, entschied der Richter für das Ermittlungsverfahren von Trapani im April, keinen Prozess gegen die Angeklagten zu eröffnen, da der Tatbestand der Anklage nicht erfüllt sei und bestätigte somit ein uneingeschränktes Recht auf Seenotrettung. Nach jahrelangem Kampf für die allgemeine Freizügigkeit wurde damit auch im Gerichtssaal anerkannt, dass Migrant*innen auf See in erster Linie Schiffbrüchige und Asylsuchende seien.

Doch leider - gerade, als es so schien, dass grundlegende Rechte vor Gericht Anerkennung gefunden hatten - kam es zu einem weiteren Freispruch mit entgegengesetzter Wirkung. Im Dezember 2024 sprach das Gericht von Palermo Matteo Salvini von den Anklagepunkten der Freiheitsberaubung und der Verweigerung von Amtshandlungen frei, da der Tatbestand nicht erfüllt sei. Denn nach Auffassung des Gerichts war die Verweigerung der Ausschiffung von 147 Migrant*innen, die einen Schiffbruch überlebt hatten und die tagelang auf dem vor Lampedusa ankernden Schiff festgehalten wurden, ein völlig legitimes Verhalten.

Da diese Entscheidung aber die Rechte von Menschen auf der Flucht weiterhin in Frage stellt, wird der Kampf dafür fortgeführt werden müssen.

Dazu gehört insbesondere das Rechtsgutachten im Fall Kinsa, in dem Artikel 12 vom Gerichtshof der Europäischen Union auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Charta von Nizza geprüft wird. Wir erwarten die Anhörung im April 2025 in der Hoffnung, dass es sich in diesem Fall um eine Verordnung handeln könnte, die wir schon immer als rechtswidrig verurteilt haben.

In Ragusa hingegen nimmt der Prozess gegen Mediterranea seinen Fortgang, bei dem eine NGO einmal mehr vor Gericht beweisen muss, dass die Rettung von Menschen auf dem Meer kein Verbrechen ist.

Im März schließlich wird in Cutro der Prozess gegen jene Behörden beginnen, die Hunderten von Ertrinkenden die Rettung verweigert haben. Dies wird eine wichtige Gelegenheit sein, in einem Gerichtssaal zu belegen, dass die wahren Schuldigen für die Tode auf dem Meer nicht bei den Migrant*innen zu suchen sind, sondern bei den Institutionen, die weiterhin die Politik der Grenzüberwachung über die Politik der Menschenrechte stellen.

So beginnen wir das Jahr 2025 kämpferisch, im Bewusstsein der vor uns liegenden Herausforderungen, aber bestärkt durch unser solides Netzwerk, das fähig ist, Widerstand zu leisten, zu reagieren und gemeinsam Aufbauarbeit zu leisten. So wie ein Genosse vor vielen Jahren aus dem Gefängnis schrieb: Was wir brauchen, ist der Pessimismus des Verstandes und der Optimismus des Willens.

 

 

Dal mare al carcere - Vom Meer (direkt) ins Gefängnis

“Dal mare al carcere“ ist ein militantes Projekt von Arci Porco Rosso und borderline-europe, das seit 2021 die Kriminalisierung der so genannten “scafisti" (die, die die Boote fahren) in Italien überwacht und kriminalisierten Menschen sozialrechtliche Unterstützung bietet.

Wir danken Guerilla, FGHR (Fund for Global Human Rights), Sea Watch, Safe Passage und United4Rescue, die sich entschlossen haben, diese Sache und unsere Militanz zu unterstützen.

Wir danken auch Valeria Ferraro für die Verwendung ihrer Fotografie (Cutro-Prozess, Crotone 2024).

 

Übersetzung aus dem Italienischen von Isabel Pirlich und Susanne Privitera.