Ein Gefühl von Ohnmacht auf der Gefängnisinsel Lesbos
Wird diese Form der Abschottungspolitik auf Kosten der Menschenwürde zur Normalität?
Mytilini, 10.6.2018
Aktuell leben auf Lesbos nach offiziellen Angaben 8.000 Geflüchtete und Migrant*Innen. Die Mehrheit dieser Menschen kommt aus Syrien (31%), Afghanistan (22%) und Irak (19%), unter ihnen sind 21% Frauen, 32% Kinder. 1.792 der geflüchteten Kinder sind unter 12 Jahren, nicht wenige davon leben im „Hotspot“ Moria. Besonders dramatisch ist dies in Bezug auf ihren Zugang zu Bildung. Obwohl es Willkommensklassen in öffentlichen Schulen gibt, die geflüchtete Kinder aufnehmen, reichen die Plätze bei einer so hohen Anzahl jedoch längst nicht aus. Nur ca. 200 dieser Kinder gehen in öffentliche Schulen, andere nehmen je nach Angebot an sogenannten informellen Bildungsangeboten mit sehr unterschiedlicher Qualität teil. Viele geflüchtete Kinder verbringen häufig länger als 12 Monate ohne Zugang zu Bildung [1]. Auch bei der Unterbringung setzt sich die mangelhafte Versorgung fort. Seit Monaten ist das Camp Moria hoffnungslos überbelegt, Menschen leben hier abgeschottet von dem Rest der Insel in einer Art Zustand des Wartens, des Bangens, des in-der-Schlange-Stehens für Essen, des in-der-Schlange-Stehens für eine Windel, des Unwissens darüber wie es weiter geht.
Das ist nichts Neues, aber ist das nun keine Nachricht mehr wert? Lange stand Lesbos symbolisch für ausgeübte Solidarität mit Geflüchteten. Lange hatte aber auch niemand vermutet, dass die Menschen, die mit kleinen Holz- und Schlauchbooten aus der 8 km entfernt liegenden Türkei übersetzen alle in Moria mit einer Kapazität von 1.500 Personen untergebracht werden. Immer wieder kommt es zu Protesten auf der Insel, von Seiten der Geflüchteten, die ihre Rechte einfordern, aber auch von Seiten der lokalen Bevölkerung. Das System der menschenunwürdigen Unterbringung tausender Menschen scheint sich etabliert zu haben. Und das hat auch Auswirkungen auf die Atmosphäre auf der Insel. Verständnislosigkeit macht sich breit, Proteste und Meinungsäußerungen werden aggressiver. Menschen, die zuvor engagiert Geflüchtete unterstützt haben, zucken nun mit den Schultern und bemängeln ihre eigene prekäre Lebenssituation. Doch es gibt inzwischen auch gewalttätige Übergriffe durch Rechtextreme. Am 22.04. attackierten 250 bis 300 gewaltbereite, dem rechten Spektrum zuzuordnende, lokale Anwohner*innen friedlich protestierende Geflüchtete auf dem öffentlichen Sappho Platz im Zentrum von Mytilini. Der Angriff dauerte Stunden, die Polizei griff trotz Präsenz nicht ein[2]. Viele der am Abend Anwesenden waren schockiert über das Ausmaß der Gewalt. Auch innerhalb Moria’s kommt es aufgrund der untragbaren Zustände zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. So zuletzt am 26.05. als Bewohner*innen des völlig überfüllten Camps nicht-fastende Kurd*innen während Ramadan angriffen[3]. 900 Kurd*innen verließen daraufhin fluchtartig das Camp und weigern sich seitdem wieder dorthin zurückzukehren, da sie befürchten erneut Opfer von Gewalt zu werden. Die lokale Polizei versuchte zunächst den Weg von Moria nach Mytilini zu blockieren, eine ärztliche Versorgung der Verletzten wurde ausschließlich durch Nichtregierungsorganisationen und solidarische Gruppen geleistet. 350 dieser erneut fliehenden Menschen kommen tags darauf in dem von Lesvos Solidarity betriebenen PIKPA Camp unter. Die Reaktion des Inselbürgermeisters Spiros Gallinos setzt ein deutliches Zeichen: Er verklagt das PIKPA Camp wegen irregulärer Aufnahme von Geflüchteten, am 15.06. beginnt der Prozess. Den Kurd*innen wurde gedroht ihre Asylverfahren auszusetzen, sofern sie nicht nach Moria zurückkehren. Mit Schutz von Schutzsuchenden hat dies wenig zu tun.
Foto: © Lesvos Solidarity, PIKPA Camp
Geflüchtete, die in Moria leben, fragen uns immer wieder wie es möglich sei, eine Ablehnung im Asylverfahren zu bekommen, obwohl sie in ihrem Herkunftsland um ihr Leben fürchten müssen. Sie fragen uns auch wieso es scheinbar niemanden interessiere, was in Moria los sei. Einige die aufgrund von sogenannter Fluchtgefahr teilweise länger als 3 Monate inhaftiert werden, fragen wieso niemand helfen kann. Und das obwohl das mediale Interesse nicht abzureißen scheint. Wir haben im MOSAIK Support Center nahezu täglich Anfragen von Journalist*innen, Dokumentarfilmer*innen und Wissenschaftler*innen, die Artikel und Filme publizieren, um über die Lage auf der Insel zu informieren. Und dennoch verändert sich nichts. Das System der Abschottung und Abschreckung, was auf Kosten von 8.000 Geflüchteten und Migrant*innen etabliert wird, hat nichts mit den vielzitierten europäischen Grundrechten auf Transparenz, Rechtsstaat, Demokratie und Freiheit zu tun. Proteste gegen die Zustände auf Lesbos gibt es jeden Monat, doch der Weg nach Berlin, Athen und Brüssel ist weit.
Es kommt auf die Empörung und Unterstützung aus der Zivilgesellschaft an! Wir setzen uns für ein solidarisches Zusammenleben auf Lesbos und in Europa ein: https://lesvosmosaik.org/en/support