From Sea to Prison: Braving the Waves
Vom Meer ins Gefängnis: Den Wellen trotzen
‘From Sea to Prison Project’: Zweiter Quartalsbericht 2024
- Einleitung
In einem Land, das von einer rechtsextremen Regierung geführt wird, war es zu erwarten, dass sich die Kriminalisierung der Bewegungsfreiheit weiter fortsetzt. In dem Artikel, den wir für die neue Ausgabe des Controfuoco-Magazins von Melting Pot (Link auf italienisch) geschrieben haben, zeigen wir auf, dass diese Politik auf einem kriminalisierenden Narrativ basiert, welches über Jahrzehnte aufgebaut wurde und sich unter der Meloni-Regierung weiter zugespitzt hat. Dabei beleuchten wir, wie die Konstruktion der Figuren des “Schmugglers“ und des “Menschenhändlers“ mit der italienischen und internationalen Migrationspolitik verflochten ist, wie sie diese geprägt hat und wiederum gleichzeitig auch von ihr geprägt wurde. Wir konzentrieren uns auch auf einige Momente der strategischen und manipulativen semantischen Verwirrung, die aktuelle politische Akteur*innen zwischen diesen Konzepten schaffen. Deren Wortwahl hält ein rassistisches und tödliches Regime aufrecht und stellt Fallstricke auf, die wir zu vermeiden lernen müssen.
In den letzten Monaten konnten wir die Folgen des Cutro-Dekrets in den Gerichtssälen beobachten, insbesondere die Folgen für “Bootskapitäne“, die Schiffsbrüche und den Tod auf See entgangen sind. Die konkreten Ergebnisse des Versuchs der derzeitigen Regierung, die Strafen zu erhöhen, waren jedoch bisher nicht eindeutig. Wie wir in den folgenden Kapiteln zeigen werden, ist der erste Prozess den Artikel 12 bis betreffend gescheitert, und der gesamte Rechtsrahmen, der die Erleichterung der Bewegungsfreiheit kriminalisiert, wurde mit dem Fall ‚Kinsa‘ vor den Europäischen Gerichtshof gebracht. Gleichzeitig bildet sich ein immer stärkeres Netzwerk um einige dieser Fälle, wie die der in Kalabrien inhaftierten iranischen Frauen oder der Kapitäne vor Gericht in Neapel. Auch wenn so viele Menschen derzeit noch inhaftiert sind - etwa 80 davon mit denen wir in Kontakt stehen – oder abgeschoben wurden (wie unser Freund M.), zeigen uns diese Netzwerke und kleinen Siege vor Gericht, dass man den Wellen noch trotzen kann.
- Der Fall Kinsa vor dem Europäischen Gerichtshof
Am 18. Juni hielt die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs eine öffentliche Anhörung ab, in der sie aufgefordert wurde, die Rechtmäßigkeit der europäischen Strafverfolgungspflichten zu bewerten, die den EU-Richtlinien zur Unterstützung der irregulären Einwanderung zugrunde liegen. Die Entscheidung des Gerichtshofs betrifft die Vereinbarkeit des ‘Facilitators-Pakets’ und folglich von Artikel 12 des italienischen Einwanderungsgesetzes (das seine innerstaatliche Umsetzung darstellt) mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
Dies ist ein entscheidender Moment, in dem der gesamte rechtliche Rahmen, der die Bewegungsfreiheit kriminalisiert, endlich in Frage gestellt wird. Wir haben eine Erklärung verfasst, in der wir den Fall skizzierten (Link auf Italienisch), zusammen mit der studentischen Rechtsberatung der Roma Tre Universität, welche von 20 anderen Organisationen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, mitunterzeichnet wurde. Wir hoffen, dass die Entscheidung des Gerichts im Herbst dieses Jahres die in dieser Vorlage vorgebrachten Argumente berücksichtigen wird.
Und doch steckt hinter jedem Fall strategischer Rechtsstreitigkeiten auch eine Person und eine Geschichte. In diesem Fall ist diese Person O.B., eine Frau aus der Republik Kongo, die im Sommer 2019 mit ihrer 8-jährigen Tochter und ihrer 13-jährigen Nichte von Casablanca nach Bologna geflogen ist. Bei der Grenzkontrolle am Flughafen Bologna entdeckte die Polizei, dass ihre Pässe gefälscht waren und O.B. wurde verhaftet, weil sie die irreguläre Einreise der beiden Minderjährigen unterstützt hatte. Unglücklicherweise verschwand ihre Nichte aus dem Empfangszentrum, in dem sie nach der Verhaftung ihrer Tante untergebracht wurde, und wird seitdem vermisst. Wir versuchen, diese Geschichte zu rekonstruieren, in der Hoffnung, dass es O.B.s Nichte gut geht.
- Artikel 12bis: Zurück an den Absender
Im vergangenen Monat wurde der erste Prozess abgeschlossen, in dem die Angeklagten nach dem neuen Strafbestand nach Artikel 12bis des Einwanderungsgesetzes beschuldigt wurden. Der Artikel 12bis - eingeführt von der Meloni-Regierung nach dem Cutro-Massaker - sieht eine Höchststrafe von 30 Jahren und ein Minimum von acht Jahren für den Fall vor, wenn Menschen während der Flucht sterben. Die Entscheidung des Gerichts in Reggio Calabria kam über ein Jahr nach der Verhaftung von zwei jungen Männern aus Sierra Leone, J. und M., die als Kapitäne des Bootes festgenommen wurden. Wir standen sowohl mit den Angeklagten über Briefkorrespondenz, als auch mit ihren Verwandten und Anwält*innen in Kontakt.
In der abschließenden Verhandlung scheiterte die Anklagen nach Artikel 12bis: M. erhielt eine Strafe von zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis, viel geringer als die vom Staatsanwalt geforderte Strafe, und J. wurde von allen Anklagepunkten freigesprochen. Obwohl das Überqueren von Grenzen niemals kriminalisiert werden sollte, sind wir von der guten Nachricht erleichtert: M. sollte Anfang nächsten Jahres frei sein, wenn seine Strafe für 'gute Führung‘ reduziert wird, und J. ist bereits aus dem Gefängnis entlassen.
Wir hoffen, dass dieses Urteil als wichtiger Präzedenzfall für andere Verfahren wegen angeblicher Verletzung von Artikel 12bis dienen kann. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich nun auf den ersten Fall, in dem diese Art der Anklage gegen sieben Personen erhoben wurde, die im April 2023 verhaftet wurden, nachdem sie eine qualvolle Reise überlebten, bei der ein Mann starb, und von denen alle noch immer inhaftiert sind. Wir stehen mit mehreren Angeklagten in Kontakt und verfolgen den Gerichtsprozess in Locri.
- Die ‚Libyschen Fußballspieler‘
Schon vor der Einführung von Artikel 12bis wurden extrem hohe Strafen gegen Personen verhängt, die beschuldigt wurden, Boote gefahren zu haben. Entsetzlicherweise war dies im Jahr 2020 der Fall, als das Gericht in Catania im August 2015 acht junge Männer zu 20 bis 30 Jahren Gefängnis für eine Katastrophe verurteilte, bei der 49 Menschen während der Flucht an Erstickung starben. Der Fall ist auch als der der 'libyschen Fußballer' bekannt (obwohl nicht alle Verurteilten Fußballer oder Libyer sind). Zusammen mit anderen Organisationen in unserem Netzwerk kritisieren wir seit Jahren öffentlich die Absurdität dieses Urteils und die Widersprüche, auf denen der Prozess basierte.
Wir haben seit drei Jahren Briefe mit sieben dieser jungen Männer ausgetauscht, keiner von ihnen hat jemals aufgegeben. Sie erklären immer noch hartnäckig ihre Unschuld und haben die Namen von Personen angegeben, die vor Gericht aussagen und beweisen konnten, dass sie Passagiere waren wie alle anderen an Bord. Einige dieser Zeugen wurden von ihren Anwält*innen im Rahmen der Verteidigungsermittlungen gehört, was zu einem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens führte, der letztes Jahr beim Berufungsgericht in Messina eingereicht wurde. Trotz der neuen Beweise der Anwälte wurde der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens abgelehnt. Dies bedeutet, dass das Gericht nicht einmal zugelassen hat, dass neue Zeugen angehört werden, obwohl die Situation, die sie beschreiben, eine völlig andere darstellt als die, auf der die Verurteilung basiert, was die von den Gefangenen seit Jahren erzählte Version bestätigt.
Die Anwält*innen haben die Entscheidung zum Obersten Kassationsgerichtshof gebracht, auf die wir noch warten. Wir hoffen aufrichtig, dass der Oberste Gerichtshof die Argumente der Verteidigung beherzigt und den Fakten über das Leben von sieben jungen Männern, die zu Jahrzehnten im Gefängnis verurteilt wurden, gebührende Aufmerksamkeit schenkt.
- Die Abschiebung von M.
Seit Jahren schreiben wir in unseren Berichten über M., einen tunesischen Staatsbürger, der seine Haftstrafe im April nach fünf Jahren endlich beendet hat. Unglücklicherweise konnte M. trotz jahrelanger Bemühungen eines Netzwerks von Menschen, die ihn unterstützen wollten, vor seiner Freilassung nicht auf Bewährung oder Hausarrest zugreifen und wurde sofort aus dem Gefängnis in das Abschiebezentrum in Caltanissetta verlegt. Es war äußerst schwierig für ihn, dort einen vertrauenswürdigen Anwalt zu erhalten, da die Telefonzelle - die einzige Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren - nicht funktionierte und das private Unternehmen, das das Zentrum leitete (Albatros 1973) , telefonisch nicht erreichbar war. Unter diesen Bedingungen unterzeichnete M. ein Dokument, dessen Inhalt er nicht vollständig verstand, in dem er seinen Asylantrag zurückzog. Später erzählte er uns jedoch, dass er in diesem Moment alles getan hätte, um seine Verwaltungshaft zu beenden, weil er nach fünf Jahren Haft keinen weiteren Tag in einer Zelle ertragen konnte. Trotz der Bemühungen seines Anwalts wurde M. einige Tage später mit einem Ausweisungsbefehl und einem fünfjährigen Wiedereinreiseverbot nach Tunesien abgeschoben, ohne jemals die Möglichkeit gehabt zu haben, sich als freier Mann in Italien zu bewegen.
Unsererseits wird unsere Wut über die unerbittliche Ungerechtigkeit, die der italienische Staat M. zugefügt hat, unsere Arbeit für die nächsten hundert ähnlichen Fälle sowie unsere Bemühungen gemeinsam mit anderen Netzwerken, die die sofortige Schließung dieser rassistischen und unmenschlichen Zentren fordern, weiter motivieren.
- Marjan and Maysoon, iranische Frauen vor Gericht
In den letzten Monaten begannen die Prozesse gegen zwei iranische Frauen, die Ende 2023 des Menschenschmuggels beschuldigt und unmittelbar nach ihrer Ankunft in kalabrischen Gefängnissen inhaftiert wurden. Dank der gemeinsamen Arbeit ihres Anwalts und des Netzwerks, das um die Angeklagten mobilisierte, gewährte der Untersuchungsrichter Marjan Jamali schließlich Hausarrest, was ihr ein Wiedersehen mit ihrem 8-jährigen Sohn ermöglichte und teilweise den enormen Druck, der durch Inhaftierung und Zwangstrennung bestand, linderte. Der Prozess gegen sie geht jedoch weiter: Ende Oktober wird mit dem Kreuzverhör der Zeug*innen der Anklage die dritte Anhörung stattfinden.
Unterdessen befindet sich Maysoon Majidi, eine kurdisch-iranische Aktivistin im Gefängnis, die eine Zeit lang in einen Hungerstreik getreten ist, um gegen ihre Inhaftierung zu protestieren. In einem Brief schrieb sie uns darüber, wie viel Gewicht sie verloren hat und über das Leid, welches sie im Gefängnis erfährt. Ein wachsendes, solidarisches Netzwerk der Unterstützung bildet sich auch um ihren Fall herum, einschließlich einer zunehmenden Anzahl von Journalist*innen, die bereits den Schnellverfahrens-Charakter der Untersuchungen und die Widersprüchlichkeit der Anklagen gegen sie kritisiert haben. Ihr Prozess beginnt am 24. Juli.
- Die Kapitäne von Neapel
In den letzten 18 Monaten hat Italiens Kampf gegen zivile Such- und Rettungsschiffe die Form der Zuweisung entfernter Zielhäfen angenommen, eine Strategie, die darauf abzielt, humanitäre Schiffe so lange wie möglich vom Mittelmeer fernzuhalten. Die Folgen waren für Menschen auf der Flucht gleichermaßen vorhersehbar und verheerend. Auf der anderen Seite hat das Ansteuern dieser ungewöhnlichen Häfen (wie Genua, Ravenna, Civitavecchia, Carrara und Neapel) lokale Einrichtungen - sowohl institutionelle Behörden als auch selbstorganisierte Gruppen - dazu veranlasst, sich erstmals mit diesen Fragen zu befassen. In Neapel wurden Menschen aus dem Sudan, Gambia und Ägypten vor Gericht gestellt, und eine Gruppe von Anwält*innen und Aktivist*innen hat sich zusammengeschlossen, um sie zu unterstützen. Ende Juni hatten wir das Vergnügen, sie bei der Veranstaltung 'Noi Capitani!' ('Wir, Kapitäne!'), organisiert von Mediterranea Napoli und ASGI, besser kennenzulernen. Zu den Teilnehmenden gehörten auch die studentische Rechtsberatung der Universität Roma 3 und Besatzungsmitglieder des Rettungsschiffes Mare Ionio, die derzeit in Ragusa vor Gericht stehen. Es war ein kraftvoller und wichtiger Moment, nicht nur, um die Bedeutung unseres gemeinsamen Kampfes gegen Artikel 12 des italienischen Einwanderungsgesetzes zu bekräftigen, sondern auch bedeutende Chancen und Möglichkeiten hervorzuheben, die sich in den letzten Monaten in Neapel und darüber hinaus ergeben haben.
Abschließend möchten wir zwei neuen Förderern, der Guerilla Foundation und dem Fund for Global Human Rights, dafür danken, dass sie an unsere Arbeit glauben und uns in diesem Jahr unterstützen.
‘Vom Meer ins Gefängnis’
Ein Projekt von Arci Porco Rosso und borderline-europe
Übersetzung ins Deutsche: Isabel Pirlich