Sechs Jahre vor Gericht und als vermeintliche Schmuggler angeklagt: Alle freigesprochen, da sie aus Not handelten
Es war der 25. Mai 2016, als ein Schiff der italienischen Küstenwache mit 1052 Menschen aus verschiedenen afrikanischen Ländern an Bord den Hafen von Palermo erreichte. Die Geretteten trugen Armbänder in verschiedenen Farben an ihren Handgelenken, violett, gold, silber, insgesamt acht Farben, die sie jeweils einem der acht Schiffe zuordnete, die von der Küstenwache in den Tagen zuvor gerettet worden waren.
Unter ihnen befanden sich siebzehn Männer, die meisten von ihnen hatten gerade erst die Volljährigkeit erreicht. Wie alle anderen 1035 waren sie auf der Suche nach Schutz und einem sicheren Leben in Europa. Im Gegensatz zu den anderen wurden sie jedoch an Bord des Rettungsschiffes von der Gruppe isoliert und nach ihrer Ankunft im Hafen sofort wegen "Beihilfe zu unerlaubten Einreise" verhaftet und in Untersuchungshaft gebracht.
Für die 17 jungen Männer war dies der Beginn einer weiteren erschütternden Erfahrung, im direkten Anschluss an die traumatischen Reise, die sie gerade hinter sich gebracht hatten. Eine Prozedur, die sie jahrelang in der Schwebe und im Ungewissen über ihre Zukunft lassen würde, bis sie schließlich im März diesen Jahres mit einem endgültigen Freispruch endete.
Nur wenige Stunden nach der Rettungsaktion nahm die Staatsanwaltschaft Palermo die Ermittlungen an Bord des Schiffes der Küstenwache auf. Sie befragte die traumatisierten und erschöpften Personen, um herauszufinden, wer Steuer und Kompass gehalten oder den Notruf für die Boote ausgelöst hatte. Durch die Aussagen von etwa zwanzig Personen konnten siebzehn "Verdächtige" ermittelt werden.
Die feindselige Haltung der Behörden gegenüber den schutzbedürftigen Menschen, die noch kurz zuvor um ihr Leben fürchten mussten, ist Teil eines systematischen Ansatzes im europäischen Kampf gegen angeblichen "Schlepperbanden". Dabei werden die Schutzsuchenden zu Sündenböcken, mittels derer Europa sich aus der Verantwortung für die Todesfälle und die Gewalt auf dem Weg nach Italien, zieht, die durch die eigens herbeigeführte EU-Migrationspolitik verursacht wird. Die Skrupellosigkeit der Behörden gegenüber Schutzsuchenden wird besonders deutlich in Anbetracht der Zeug*innenaussagen, die während der Anhörungen im Prozess gegen die 17 angeklagten Personen verlesen werden, welche die Schwere der psychologischen und seelischen Traumata nur erahnen lässt.
Zehn der Angeklagten bestätigten, dass sie die ihnen vorgeworfene Handlungen durchgeführt haben: Einige hatten das Boot gesteuert, andere hatten die Richtung angegeben, wieder andere waren im Besitz eines Telefons oder Kompasses gewesen. Zeug*innen sowie Angeklagte bestätigten, dass sie sich vor der Abreise in einem gewalttätigen und grausamen Umfeld befanden, in dem ihnen von Libyern gewaltsam Rollen auf dem Boot zugewiesen wurden, denen man sich nicht widersetzen konnte. Dies wurde auch von einem Zeugen bestätigt der einem dramatischen Vorfall beiwohnte: Ein Mann, der mit dem Steuern des Bootes beauftragt worden war, hatte aus Angst, nicht mehr fahren zu können, beschlossen, nach Libyen zurückzukehren und wurde deshalb von einem libyschen Schleuser getötet.
Die Prozessunterlagen bestätigen, dass es ausreicht, aus einem Land zu stammen das eine Küste hat, um als Kapitän ernannt zu werden und über - wenn auch schwache - Englischkenntnisse zu verfügen um ein Telefon in die Hand zu bekommen, mit dem man in internationalen Gewässern die Küstenwache kontaktieren kann. Dank der Zeug*innenaussagen, die in drei Fällen die Anwendung von Gewalt bei der Zuweisung der Rolle auf dem Boot bestätigten konnten, wurden drei der Angeklagten bereits im Vorverfahren freigesprochen.
Für die anderen ging der Prozess weiter, der nur dank des unermüdlichen Einsatzes der Anwält*innen ein glückliches Ende fand. Doch musste es erst zu einem jahrelangen Verfahren kommen, bevor der Notstand der Angeklagten endlich anerkannt wurde.
In dem Urteil erkannte das Gericht von Palermo schließlich an, dass die Angeklagten nicht Teil einer Organisation waren, die den Handel mit Migrant*innen verwaltete, sondern zum Zeitpunkt der Abreise spontan dazu ausgewählt worden waren. Außerdem haben sie wie alle anderen Passagiere einen Betrag für die Reise bezahlt und die Rollen an Bord wurden ihnen unter Waffengewalt zugewiesen.
Darüber hinaus widersprach das Gericht der These der Staatsanwaltschaft, wonach die bloße Anwesenheit der Angeklagten in Libyen eine freiwillige Herbeiführung einer Gefahrensituation darstelle. Betont wurde, dass dieser Umstand - wenn überhaupt - nur im Zusammenhang mit dem Straftatbestand der unerlaubten Einreise und nicht für den der Beihilfe relevant sein könne.
Die von der Verteidigung im Laufe des Ermittlungsverfahrens gesammelten Beweise über erlittene Drohungen führten zuallererst zur Aufhebung der Untersuchungshaft, die während des erstinstanzlichen Verfahrens gegen die 14 inhaftierten Personen verhängt worden waren. Der Freispruch aller Angeklagten im Jahr 2018 führte zu Widerstand, vor allem von Seiten der italienischen Rechten. Deren unhaltbare Begründung stützte sich vor allem auf die vermeintlich nicht erfüllten Tatbestandsmerkmale eines Notstands: Demnach seien die Angeklagten selbst verantwortlich, weil sie sich freiwillig dazu entschieden hätten, Schlepper*innen und Menschenhändler*innen zu vertrauen, um nach Europa zu gelangen. Die Wut äußerte sich auch in Beleidigungen und Drohungen gegen Richter*innen und Anwält*innen. Diesem Druck nachgebend hat die Staatsanwaltschaft Berufung gegen das Urteil eingelegt.
Diese zusätzliche Phase hat bei den Angeklagten zu einem unerträglichen Schwebezustand geführt: sie waren zwar aus dem Gefängnis befreit, aber nicht von dem Prozess. Wie andere Menschen, die mit ihnen nach Italien gekommen waren, hatten sie nach so vielen Jahren begonnen, sich ein neues Leben aufzubauen: Sie arbeiteten auf dem Land oder im Handel, beantragten Asyl, gingen zur Schule, lernten die italienische Sprache und schlossen neue Freundschaften - aber der Berufungsprozess stand ihnen noch bevor.
Am 31. März 2022 wies das Gericht in Palermo in der zweiten Instanz schlussendlich die Berufung der Staatsanwaltschaft zurück und bestätigte den Freispruch der ersten Instanz. Das Team aus Anwält*innen, das von Anfang an fest an die Unschuld ihrer Mandanten geglaubt hatte, verbrachte viele Stunden mit der Suche nach Zeug*innen in ganz Italien und reiste quer durch Sizilien, um ihre Klienten zu treffen und ihnen so eine angemessene Verteidigung zu garantieren.
Diese Art der engagierten Verteidigung sollte die Regel sein, aber leider ist sie es oft nicht. Viele, befinden sich wegen ähnlicher Anschuldigungen seit Jahren im Gefängnis. Nur wenige von ihnen haben das Glück, von Anwält*innen vertreten zu werden, die sie mit der gleichen Hartnäckigkeit verteidigen. Die Geschichten der üblichen werden nicht gehört werden und sie erfahren keine Gerechtigkeit.
Dieses Urteil ist ein großer Sieg. Es ist der Erfolg eines kollektiven Kampfes, der nicht aufhören wird, bis jede*r Einzelne von dem Risiko befreit ist, für das vermeintliche "Verbrechen" sich frei zu bewegen um Asyl zu beantragen, in europäische Gefängnisse inhaftiert zu werden.