04.07.2023

Studie: Ein rechtsfreier Raum. Die systematische Kriminalisierung von Geflüchteten für das Steuern eines Bootes oder Autos nach Griechenland

Zur englischen oder griechischen Version der Studie.

Die Bekämpfung des Schmuggels von Migrierenden ist seit 2015 eine der obersten Prioritäten der europäischen Migrationspolitik, wobei enorme finanzielle Mittel in dieses politische Ziel investiert werden. Diese Studie gibt  neue und tiefgreifende Einblicke in die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht wegen "Schmuggels" in Griechenland, indem sie den aktuellen Rechtsrahmen sowie dessen praktische Durchsetzung analysiert. Sie zeigt, dass diese Politik die Rechte von geschmuggelten Migrierenden und Asylsuchenden nicht schützt, sondern sie kriminalisiert und sie unter dem Vorwurf des Schmuggels langen Haftstrafen aussetzt, und das alles nur, weil sie die Grenze mit einem Boot oder Auto überquert haben.


Ermöglicht wird dies sowohl durch den in Griechenland und der EU geschaffenen Rechtsrahmen, der sehr weit gefasst ist, als auch durch eine Umsetzung, die durch grobe Rechtsverletzungen wie willkürliche Verhaftungen, Folter, Missbrauch, Nötigung und fehlenden Zugang zu rechtlicher Unterstützung und Verdolmetschung bzw. Übersetzung gekennzeichnet ist.

Die Betroffenen werden in der Regel unmittelbar nach ihrer Ankunft verhaftet, monatelang in Untersuchungshaft gehalten und haben nur sehr begrenzte Möglichkeiten, sich zu verteidigen und Unterstützung zu erhalten. Die Prozesse, in denen diese Anschuldigungen verhandelt werden, sind sehr kurz und verstoßen gegen grundlegende Standards der Fairness.

In dem Bericht werden insgesamt 81 Verfahren gegen 95 Personen untersucht, die in Griechenland an acht verschiedenen Orten, nämlich in Komotini, Thessaloniki, Rhodos, Samos, Lesbos, Kreta, Syros und Kalamata, festgenommen und wegen Schleusung vor Gericht gestellt wurden. Die Ergebnisse sind alarmierend:

Wichtigste Ergebnisse

  • Die Verhaftung von Boots-/Autofahrer*innen oder anderen Personen an Bord wegen Schmuggels ist eine gängige Praxis der Strafverfolgungsbehörden, wobei die tatsächliche Rolle oder Absicht der Beschuldigten kaum berücksichtigt wird;

  • Geschmuggelte Personen selbst, darunter auch Asylsuchende, werden systematisch wegen Schmuggels verurteilt, weil sie (angeblich) das Boot oder das Auto gefahren oder dabei assistiert  haben;

  • Im Jahr 2022 wurden mindestens 1374 Personen wegen Schmuggels verhaftet;

  • Bei Verhaftungen und Ermittlungen kommt es immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen, darunter willkürliche Verhaftungen, Gewalt und Nötigung, wenig oder kein Zugang zu Dolmetscher*innen oder rechtlicher Unterstützung sowie Probleme beim Zugang zum Asylverfahren während der Haft;

  • In 84 % der Fälle wird eine Untersuchungshaft angeordnet, die im Durchschnitt 8 Monate dauert. Am 28. Februar 2023 befanden sich 634 Personen wegen Schmuggels in Untersuchungshaft in Griechenland.

  • Urteile werden auf der Grundlage unzureichender und fragwürdiger Beweise erlassen, wie z. B. der Aussage einer*s einzigen Polizei- oder Küstenwachebeamt*in; die Polizei- oder Küstenwachebeamt*innen, die die Aussage machten, auf die sich die Anklagen stützten, erschienen in 68 % aller dokumentierten Fälle nicht zum Verhör vor Gericht;

  • Im Durchschnitt dauern die Gerichtsverfahren 37 Minuten; in Verfahren mit Pflichtverteidiger*innen  lediglich 17 Minuten; das kürzeste von uns dokumentierte Verfahren dauerte 6 Minuten;

  • Die Verfahren führen zu einer durchschnittlichen Haftstrafe von 46 Jahren und einer Geldstrafe von 332.209 Euro;

  • 52 % aller Verurteilten verbüßen eine Haftstrafe von 15 Jahren bis lebenslänglich;

  • Am 28. Februar 2023 befanden sich 2154 Personen in griechischen Gefängnissen, die des Schmuggels beschuldigt wurden (dies stellt die zweitgrößte Gruppe nach Straftat dar); fast 90 % von ihnen sind Drittstaatsangehörige (1897).

Die ganze Studie zum Download.


Donnerstag, 06.Juli 2023