Afghanischer Richter im Gefängnis von Catanzaro: "Ich bin kein Schmuggler"
von Alessia Candito in La Repubblica (aus dem Italienischen von Thea Dobiasch)
Als Staatsanwalt geriet er wegen seiner Kämpfe für Gerechtigkeit in das Fadenkreuz der Taliban. In Italien, wo er Zuflucht suchte, wurde er als "scafista" beschuldigt und verhaftet. Ohne die Mittel, die Kenntnis der Gesetze und Vorschriften oder der Sprache, um sich zu verteidigen. Und sogar ohne die Möglichkeit seinen eigenen Namen geltend zu machen, der in den offiziellen Akten verfälscht wurde. Es wirkt wie ein Roman von Kafka, mit einem labyrinthischen Prozess, der sich in unserem Jahrhundert abspielt. Aber es ist die wahre Geschichte von Ahmad Jawid Mosa Zada, einem Richter des Obersten Gerichtshofs, der seit Monaten im Gefängnis von Catanzaro sitzt.
Für Ermittler und Staatsanwälte ist er einer der Menschenschmuggler, die ihr Geld damit verdienen, dass sie die Verzweiflung anderer Menschen ausnutzen. Einer der fünf - so die Staatsanwaltschaft von Locri -, die das Fischerboot steuerten, das am 26. Mai die türkische Küste verließ und fünf Tage später vor dem Ufer von Roccella Jonica eintraf. An Bord waren 230 Personen. Männer, Frauen, Kinder und Jugendliche, viele von ihnen unbegleitet. Menschliche Schicksale, die schmerzen. Dort in der Mitte: Ahmad Jawid. Benommen vor Angst, nachdem er tagelang im Maschinenraum des Schiffes verbracht hatte, betend, dass das Schiff nicht vom Meer verschlungen werden würde. Als die Patrouillenboote der Küstenwache und der Finanzbehörden eintrafen, war er überzeugt, das Schlimmste sei überstanden. Aber er irrte sich. Drei Personen zeigten mit dem Finger auf ihn. Zwei Iraker und ein Syrer, die aktuell vermisst werden. Unmittelbar nach ihrer Ausschiffung wurden sie von den Ermittlern befragt. In den vielen Fotos, die von den Mitreisenden geschossen wurden, fanden sie auch seins.
'Scafista'. Müde und verwirrt versuchte Ahmad Jawid zu erklären, dass es sich um ein Missverständnis handelte, dass er viel Geld für die Überfahrt bezahlt und die Quittung für die Überweisung zu Hause aufbewahrt hatte. Siebentausend Euro, die über den Gelddienstleister “Ariana" in Baikh, Pakistan, überwiesen wurden und, wie es in der beglaubigten Übersetzung des Begleitscheins heißt, "erst gutgeschrieben werden wenn ein Nachweis über die Ankunft in Italien vorliegt". Die Sprache wurde jedoch zu einer unüberwindbaren Hürde und die Verhaftung für gültig erklärt - der afghanische Staatsanwalt landete im Gefängnis. All dies teilte er seinem Anwalt erst sieben Monate später mit. So lange dauerte es bis die Akte in den Händen des Anwalts Giancarlo Liberati landete, die erste Person mit der Ahmad Jawid wirklich über seinen Fall sprechen konnte bevor er sich dem Gericht stellen musste.
„Zuerst bat er mich, seine Frau anzurufen", erzählt der Anwalt, "sie hatte seit fast einem Jahr nichts mehr von ihm gehört. Die Reise des afghanischen Staatsanwalts begann nämlich lange bevor er in das Fischerboot stieg. Die Taliban waren noch nicht an die Macht zurückgekehrt, jedoch schien dies nach dem Abzug der US-Truppen fast sicher zu sein. Ahmad Jawid wusste, dass er in Gefahr sein würde. Bereits 2018 war er Opfer eines Attentats geworden. Die Koranschüler, so erklärte er seinem Anwalt, hätten ihn nie gemocht und ihm auch nicht verziehen, dass er wiederholt an den Frauenrechtsseminaren der Asia Foundation teilgenommen habe. Aus diesem Grund verließ er Afghanistan noch bevor die Regierung von Präsident Ashraf Ghani zusammenbrach.
Zu Fuß oder per Anhalter gelangte er bis in die Wälder der iranisch-türkischen Grenze, wo Schlepper auf ihn warteten. Von dort aus fuhren sie mit verbeulten Pickups weiter bis zur Küste. Eine Reise, die zu gefährlich war, um seine Frau Behishta Ebrahimi Mosazada und die beiden Kinder des Paares, Tahura, die sechs Jahre alt ist, und Ahmad Sobhan, ein Jahr älter, mitzunehmen. Sie blieben im afghanischen Mazar-i-Sharif. Ahmad Jawids Bruder und Vater waren ebenfalls dort - sie alle warteten, oder besser gesagt, hofften auf Nachrichten. Sie hofften, der Angst standhalten zu können: Die Angst Ahmad verloren zu haben. Die Angst vor den Taliban und vor dem Hunger, der Afghanistan fest im Griff hielt. Die gleichen Gedanken, die auf der anderen Seite des Erdballs auch den Staatsanwalt quälten, der mehr um seine Familie als um sich selbst fürchtet. Er sitzt im Gefängnis fest, aus dem ihn der Ermittlungsrichter nicht freilässt. „Aber er hat mir gesagt", so berichtet sein Anwalt, „dass er immer noch auf Gerechtigkeit hofft. Und ich wünsche mir, dass das Gericht bei der erneuten Prüfung seines Falles, diese Hoffnung erfüllt“.