Der Schleuser von Mariupol
Der Schleuser von Mariupol
von Valeria Colombo
aus dem Italienischen übersetzt von Marah Frech
Veröffentlicht auf Left am 01.04.22.
M. kam 2018 im Alter von 22 Jahren aus der Ukraine nach Italien, am Steuer eines Segelschiffes mit 46 irakischen Geflüchteten an Bord. Nach drei Jahren Haft wegen der Anklage der Beihilfe zur unerlaubten Einwanderung wurde M. im vergangenen Jahr nach Mariupol abgeschoben. Schon wenige Tage nach Beginn der russischen Bombenanschläge war er unauffindbar.
Heute öffnet Italien die Türen für ukrainische Geflüchtete, doch gestern waren sie noch im Visier der Grenzbehörden: In den letzten Jahren wurden Dutzende ukrainische Staatsbürger*innen unter dem Vorwurf, „Schleuser“ zu sein, festgenommen oder aus Italien abgeschoben. Dies ist die Geschichte von M., dem „Schleuser“ von Mariupol.
Im Inneren eines alten Kleinwagens, unter drückendem Himmel, durchquert M. schweigend ein verlassenes Viertel. Ein düsterer Schwarm schwarzer Vögel fliegt über die sowjetischen Gebäude. Ein paar Panzer fahren auf die Straße und holpern auf dem rissigen Asphalt. M. steigt aus dem Auto und läuft zu Fuß einen Schotterweg entlang, wo sich andere Menschen zwischen den Feldern und Bauernhäusern versammeln. Im Hintergrund durchbricht eine schwarze Rauchsäule die Kontinuität des Graus am Himmel, und das Donnern der Schüsse unterbricht die Stille. Mitten auf der Straße liegt etwas, M. folgt dem Schotterweg und kommt näher: es ist der leblose Körper einer Frau. M. lebt in Mariupol, der wichtigsten ukrainischen Hafenstadt und der Ort, der am stärksten von der russischen Offensive betroffen ist. Ende Februar erzählte er mir, dass sie "keinen Strom haben und die Mobilfunkverbindung gekappt wurde" und dass "die Geschäfte geschlossen sind und es schwierig ist, Brot und Wasser zu kaufen". Es folgen Fotos von leeren Regalen, Dutzenden von Menschen, die vor den Lebensmittelläden Schlange stehen und Gebäuden, die von Bomben zerstört wurden. “Wir haben einen Keller, wo wir uns verstecken können, wenn wir die Hässlichkeit sehen“, versichert er mir. Seit Anfang März habe ich nichts mehr von ihm gehört.
Von den Gräueln des Krieges erzählt mir M. in meiner eigenen Sprache. Er spricht Italienisch, denn er war drei Jahre lang in Italien, nachdem er im Frühjahr 2018 die Küste Kalabriens an Bord einer Yacht erreicht hatte. Er war 22 Jahre alt. Geboren und aufgewachsen in einer Hafenstadt, kennt er das Meer und arbeitete auf Segelbooten.
Vor vier Jahren schlug ihm eine türkische Agentur vor, eine Familie auf einer Urlaubsreise von Griechenland zu den Äolischen Inseln zu begleiten. Der Auftrag nimmt jedoch eine unerwartete Wendung, als M. mit einer auf seine Brust gerichteten Pistole an das Steuer eines Segelbootes mit 46 irakischen Geflüchteten gesetzt wird.
Ziel: die italienische Küste. In Italien stellt es eine Straftat dar, die Einreise von Ausländer*innen in das italienische Staatsgebiet zu fördern, zu organisieren, zu finanzieren oder zu erleichtern. Es handelt sich um die Straftat der sogenannten Beihilfe zur unerlaubten Einwanderung. M. wurde deswegen angeklagt und zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt.
Trotz seines einwandfreien Verhaltens während der Haft, erhielt er am Ende seiner Strafe eine Ausweisungsverfügung mit einem Ultimatum von 7 Tagen. Mitten in der Pandemie gab es keine Flugverbindungen in die Ukraine, doch seinem Anwalt gelang es, ihm einen Platz in einem Bus nach Kiew zu besorgen. Als er an der österreichischen Grenze ankam, wurde er erneut als „illegaler Einwanderer“ festgenommen und in einem Einwanderungszentrum inhaftiert, bevor er nach etwa zwei Wochen nach Kiew ausgeflogen wurde. M. wurde zweimal, von zwei Ländern der Europäischen Union abgeschoben und zurückgewiesen, die in diesen Tagen proaktiv ihre Bereitschaft zur Aufnahme seiner Landsleute verkünden.
M. wurde mir von Giancarlo Liberati, seinem Anwalt, vorgestellt. In den vergangenen Jahren hat Liberati 18 mutmaßliche Schleuser ukrainischer Nationalität verteidigt. Fünf von ihnen wurden nach jahrelanger Haft in italienischen Gefängnissen in ihr Herkunftsland abgeschoben. Sie befinden sich jetzt in Odessa, Cherson und Mariupol. Unter den Bomben. Die anderen dreizehn befinden sich noch immer in Gefängnissen in Italien. „Es ist meine Pflicht, meine Klient*innen zu verteidigen, aber die Verfahren wegen Schleusung haben einen enormen Einfluss auf mein Leben: Ich kann diesen jungen Menschen nicht den Rücken kehren, denn ich bin von ihrer Unschuld überzeugt“, kommentiert der Anwalt, “Es ist eine Gesetzesänderung notwendig: Dieser Artikel (Artikel 12, der Straftatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Einwanderung) muss dringend überarbeitet werden.”
Im vergangenen Jahr erstellte der Verein Arci „Porco Rosso“ aus Palermo den Bericht „Vom Meer ins Gefängnis“, in dem es heißt, dass Italien in den letzten acht Jahren 2.559 „Schleuser*innen, Organisator*innen und Vermittler*innen“ festgenommen habe. Der Verein organisiert seit Jahren eine sozialrechtliche Beratungsstelle: „Wir haben festgestellt, dass viele Ausländer*innen, die sich nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis an unsere Beratungsstelle wandten, zwei-, fünf- oder sechsjährige Haftstrafen wegen Anschuldigung des Menschenhandels verbüßt hatten“, sagt Sara Traylor, Mitglied des in Palermo ansässigen Vereins, der sich für die Unterstützung von Gefangenen einsetzt, die des Schleusens beschuldigt werden. „Indem wir den Gefangenen schreiben, haben wir Leute kennen gelernt, die bis zu 20 oder 30 Jahre Haft verbüßen“. Im Jahr 2021 stellte der Verein gemeinsam mit borderline-europe und dem Alarm Phone 154 Fälle von mutmaßlichen Schleuser*innen fest, darunter auch 34 ukrainische Staatsangehörige.
Heute ist von einer sofortigen Aufnahme ukrainischer Geflüchteter in Europa die Rede. Doch seit Jahren verfolgt die Europäische Union eine gewaltsame Politik der Grenzschließung, die zu einer fast völligen Beseitigung sicherer und legaler Wege nach Europa geführt hat. Das italienische Strafrecht wird im Rahmen dieser Abschottungspolitik durch eine systematische Kriminalisierung des Grenzübertritts angewandt, die auf die sogenannten „Schleuser“ abzielt. Diejenigen, die dank ihnen jetzt in Sicherheit sind, verurteilen sie aber nicht: „Diese Jungs, die das Boot fahren und dann im Gefängnis landen, sind für mich Engel. Engel im Gefängnis. Das sind Menschen, die erst Leben retten und dann dafür verhaftet werden. Gott helfe ihnen, denn sie haben Menschen in Sicherheit gebracht. Leute wie mich“, sagt F., ein Aktivist aus Biafano, dem in Italien Schutz gewährt wurde. M. wurde von Italien nicht geschützt. Nachdem er inhaftiert wurde, hat man ihn dorthin zurückgeschickt, wo nun die zynische zerstörerische Kraft eines weiteren sinnlosen und mörderischen Krieges wütet.
Ich hoffe jeden Tag, dass M. und seine Angehörigen einen sicheren Ort erreichen können, genau wie die 35 Geflüchteten (aus dem Irak, Anm. d. Übersetzung), die dank ihm vor einigen Jahren in Italien angekommen sind. Ich träume von einer Flotte von Booten, die bereit ist, sich jenen Grenzen zu widersetzen, die Frauen und Männer in den mörderischen Wahnsinn der Nationalstaaten einsperren, und hoffe, dass es unter uns tausend dieser mutigen Menschen gibt, die wir „Schleuser“ nennen, um sie in Sicherheit zu bringen.