28.04.2022

Drei syrischen Geflüchteten drohen 18 lebenslange Haftstrafen, weil sie das Boot gesteuert haben

von Julia Winkler, borderline-europe
übersetzt ins Deutsche von Lotta Mayr

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Auf den griechischen Inseln trägt sich ein Skandal zu: Nach dem tragischen Schiffsunglück am Heiligabend 2021 vor der griechischen Insel Paros werden drei Überlebende zu Schwerverbrechern gemacht. Weil Abdallah J., Kheiraldin A. und Mohamad B. das Steuer übernommen haben, sollen sie lebenslang hinter Gitter. Am 05. Mai findet der Prozess gegen sie auf Syros statt.

Am 24. Dezember 2021 um 8 Uhr morgens legte ein Boot von der türkischen Küste in Richtung Italien ab, mit der Hoffnung, so Griechenland zu umgehen, das für seine systematischen und gewaltsamen Pushbacks berüchtigt ist. An Bord waren mehr als 80 Menschen, die verzweifelt versuchten, Syrien und die Türkei zu verlassen, um in Europa ein neues Leben zu beginnen.

Unter ihnen war Ibrahim B., der zuvor in Deutschland Flüchtlingsstatus erhalten und dort bereits fast sieben Jahre lang gelebt hatte. 2021 reiste er zu einem Besuch nach Griechenland, wo ihm von den griechischen Behörden die Papiere abgenommen und er illegal in die Türkei abgeschoben wurde. Auch auf dem Boot war die 23-jährige Plästinenserin Rawnd Alayde aus Syrien, die ihre Eltern und vier Geschwister in Deutschland wiedersehen wollte. Sie hatte sie bereits seit über sechs Jahren nicht mehr gesehen, nachdem die deutschen Behörden ihre Bitten um Familienzusammenführung abgewiesen und sie somit gezwungen hatten, alternative Wege zu suchen. Rawnd verlor während der Überfahrt ihr Leben.

Unter ihnen waren auch Abdallah J. und Mohamad B., beide 32-jährige Väter von vier Kindern, und Kheiraldin A., ein 39-jähriger Vater von zwei Kindern. Abdallah hat Familie in Österreich, Mohamad in Deutschland, Khiraldin in Deutschland und Finnland. Khiraldin beschloss, seine Heimat, seine beiden Kinder und seine Frau in der Türkei zu verlassen, weil seine zweijährige Tochter eine Operation benötigt, die sie in der Türkei nicht bekommen kann. Er hoffte, in Europa Asyl beantragen zu können und seine Tochter dorthin mitzunehmen.

Mit ihrer Entscheidung, direkt nach Italien zu fliehen, hofften die 80 Passagiere, in zweierlei Hinsicht eine "sicherere" Option gewählt zu haben. Erstens würden sie auf einem größeren und stabileren Boot als auf einem Schlauchboot reisen. Zweitens wollten sie griechisches Hoheitsgebiet und damit gewalttätige und illegale Pushbacks vermeiden. Dies hatte seinen Preis. Überlebende sagten aus, dass die Reise zwischen 7.000 und 10.000 Euro pro Passagier kostete. Einige von ihnen mussten ihr gesamtes Hab und Gut verkaufen, um sich diese Reise leisten zu können.

Weder Abdallah, noch Mohamad oder Kheiraldin hatten dieses Geld. Sie verfügten jedoch über mechanische Kenntnisse, die sie als Bezahlung anbieten konnten. Daher erklärten sie sich bereit, Steuerungsaufgaben zu übernehmen, um dafür einen vergünstigten Fahrpreis zu erhalten.

Auf der Fluchtroute von der Türkei nach Europa ist dies nicht ungewöhnlich. Die Flüchtenden müssen die Boote in der Regel selbst steuern. Während in der Vergangenheit Schleuser*innen ihre "Kund*innen" an das gewünschte Ziel brachten, z.B. sicher auf der anderen Seite der Ägäis absetzten, ist dies durch die zunehmende Militarisierung der Grenzen und die Kriminalisierung der Migration zu einem zu hohen Risiko geworden und daher seit Jahren nicht mehr Teil des Angebots.

Aber irgendjemand muss das Boot steuern. So steuern immer öfter Flüchtende selbst das Boot, weil der oder die Schmuggler*in auf halber Strecke das Boot verlässt, um einer Verhaftung zu entgehen (wie im Fall der #Samos2); andere - wie Abdallah, Kheiraldin und Mohamad - steuern es, weil sie nicht genug Geld für die Überfahrt (oder die ihrer Familie) haben und im Gegenzug weniger zahlen müssen; wieder andere steuern es, weil sie mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen werden. Manche melden sich auch freiwillig, weil sie Erfahrung in der Seefahrt haben und zu Recht der Meinung sind, dass es für alle besser und sicherer ist, wenn sie das Ruder übernehmen als jemand völlig Unerfahrenes.

Doch genau diese Logik wird ihnen im Nachhinein zum Verhängnis. Die Person, die das Boot gesteuert hat, wird von den europäischen Behörden nicht nur als "Schmuggler*in" verantwortlich gemacht, sondern auch für das Leid während der Reise. Die Person wird verhaftet, kriminalisiert und oft für Jahrzehnte hinter Gitter gebracht. Die ganze Schuld für die zunehmend tödlichen und gewalttätigen Fluchtrouten wird ihnen zugeschoben und vdamit von der Veranwortung europäischer Behörden und Grenzpolitik abgelenkt. Und während die Zahl der Toten in der Ägäis steigt, führt die griechische Küstenwache in Zusammenarbeit mit FRONTEX weiterhin illegale und brutale Push-Backs durch.

Auf der Grundlage dieser Interpretation von Menschenschmuggel wurden bereits zahlreiche Menschen verurteilt und für Jahre inhaftiert - ungeachtet der Tatsache, dass sie versucht haben, sich und andere in Sicherheit zu bringen. Wie CPT - Aegean Migrant Solidarity, borderline-europe und Deportation Monitoring Aegean dokumentieren, wird die Erhebung solcher Anklagen gegen Geflüchtete, die auf den griechischen Inseln ankommen, vom griechischen Staat seit mehreren Jahren systematisch betrieben. Die Verhaftungen, die diesen oft unbegründeten Anschuldigungen des Schmuggels folgen, sind oft willkürlich, und die Prozesse verstoßen meist gegen grundlegende Standards der Fairness. Ohne ausreichende Beweise werden Menschen in der Regel bei ihrer Ankunft verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft gehalten. Wenn ihr Fall schließlich vor Gericht kommt, dauern die Prozesse im Durchschnitt nur 38 Minuten und führen zu einer durchschnittlichen Strafe von 44 Jahren und Geldstrafen von über 370.000 Euro.

Die Geschichte von Abdullah, Kheiraldin und Mohamad ist ein besonders tragisches Beispiel dafür. Alles, was sie wollten, war, wie alle anderen auf dem Schiff, Europa zu erreichen.

Als sie am Morgen des 24. Dezember das Schiff sahen, weigerten sie sich zuerst, es zu fahren, da es für die Anzahl der Menschen viel zu klein war. Sie versuchten, alle davon zu überzeugen, dass es zu gefährlich sei, und forderten die Menschen auf zu gehen. Doch niemand wagte es, sich zu diesem Zeitpunkt gegen die Fahrt zu entscheiden. Die meisten Passagier*innen hatten ihr letztes Geld dafür ausgegeben, und auch die bewaffneten Schmuggler*innen ließen ihnen keine Wahl und drängten sie, schnell an Bord zu gehen, um nicht von der türkischen Armee bemerkt zu werden, die an den Ufern stark patrouilliert. Es gab keine Möglichkeit zur Rückkehr. Daher übernahm Abdallah die Rolle des Kapitäns, Kheiraldin die des Mechanikers und Mohamad die des Assistenten. 160 km lang versuchten sie, das Boot so sicher wie möglich an den griechischen Inseln vorbei in Richtung Italien zu steuern. Nachdem sie bereits über zehn Stunden auf dem Wasser waren, fiel einer der Motoren aufgrund der instabilen Wetterbedingungen aus. Kurz darauf folgte der zweite. Abdallah, Kheiraldin und Mohamad gaben ihr Bestes, um das Problem zu beheben, aber es gab nicht viel, was sie tun konnten. Als Wasser in das Boot einzudringen begann, brach Panik aus, die schließlich dazu führte, dass das Boot am Heiligabend gegen 18 Uhr in der Nähe der griechischen Insel Paros kenterte.

Fischerboote sowie das Hellenic Rescue Team eilten sofort zu Hilfe, als sie die Tragödie bemerkten, die sich nur wenige Kilometer von der Insel entfernt abspielte. 63 Menschen konnten gerettet werden, aber 18 verloren ihr Leben in den Wellen.

Auf der Insel befragten die Küstenwache und die Polizei die Überlebenden. Alle standen noch unter tiefem Schock. Wenige Stunden zuvor waren sie fast ertrunken. Einige von ihnen hatten gerade ihre Liebsten verloren. Viele hatten Stunden in der eiskalten See verbracht, bevor sie gerettet wurden. Die Behörden waren jedoch nicht in erster Linie daran interessiert, die Geschichten der Opfer aufzunehmen und ihre Familien zu informieren oder ihnen Rechtsauskünfte zu erteilen. Das Einzige, was sie interessierte, war herauszufinden, wer das Boot gesteuert hatte.

Zwei Tage später, am 26. Dezember, wurden die Menschen auf dem Gelände der Technischen Schule von Paros nicht nur bewacht, sondern ihnen wurden auch ihre Telefone abgenommen, und niemand durfte mit ihnen sprechen, weder Journalist*innen noch die örtlichen Freiwilligen, die sie noch wenige Stunden zuvor unterstützt hatten. Ein Beamter der Küstenwache bezeichnete die Menschen als "Gefangene", die des Menschenschmuggels und des Mordes an zum damaligen Zeitpunkt 16 Personen verdächtigt wurden.

Am 27. Dezember wurden alle Überlebenden auf das griechische Festland gebracht. Alle bis auf drei. Abdullah, Kheiraldin und Mohamad wurden in das Gefängnis von Chios gebracht. Dort befinden sie sich bis zum heutigen Tag in Untersuchungshaft.

Ihnen wird vorgeworfen, selbst unerlaubt eingereist zu sein und 81 Drittstaatsangehörigen bei der unerlaubten Einreise behilflich gewesen zu sein, wobei erschwerend hinzukommt, dass sie ihr Leben gefährdet und den Tod von 18 Personen verursacht haben. Außerdem wird ihnen vorgeworfen, aus Gewinnstreben gehandelt zu haben und Teil einer kriminellen Vereinigung zu sein.

Dies ist ein besonders perfider Missbrauch eines Gesetzes, das angeblich Flüchtende selbst vor Ausbeutung schützen soll. Denn die Behörden stützen den Vorwurf der Geschäftemacherei auf die Tatsache, dass die drei einen ermäßigten Preis für die Reise erhalten haben, dafür dass sie im Gegenzug das Steuer übernommen haben. Das bedeutet, dass das Gesetz nicht nur diejenigen bestraft, die es zu schützen vorgibt, sondern in Wirklichkeit die am stärksten Marginalisierten unter ihnen gezielt trifft, die sich die Reise nicht leisten können und somit gezwungen sind, sich einem noch größeren Risiko auszusetzen.

Abdallah, Mohamad und Kheiraldin werden zum Sündenbock gemacht, um von der Verantwortung der EU für diese Tragödien abzulenken und die Schuld auf diejenigen zu verlagern, die ohnehin schon am meisten leiden. Das Schiffsunglück vom 24. Dezember 2021 und der Tod von 18 Menschen sind nicht die Schuld von Abdallah, Mohamad und Kheiraldin. Sie sind die unmittelbare Folge der zunehmenden Abschottung und Militarisierung der Grenzen durch die EU, die den Menschen keine andere Wahl lässt, als ihr Leben und das ihrer Familien auf immer lebensgefährlicheren Reisen zu riskieren. Zuletzt haben die systematische Gewalt und Pushbacks durch die griechischen Behörden dazu geführt, dass Flüchtende immer häufiger versuchen, Griechenland zu umgehen und direkt nach Italien zu gelangen, was die Fluchtrouten noch gefährlicher und teurer macht.

"Wieder einmal haben wir es mit einem Fall zu tun, in dem Sündenböcke an die Stelle der Angeklagten treten, die mit sehr schweren Anklagen und hohen Strafen konfrontiert sind, die bis zu 18 Mal lebenslänglich betragen können. In diesem Fall handelt es sich um drei Syrer, die von türkischen Schmugglern mit vorgehaltener Waffe gezwungen wurden, den Betrieb des Schiffes zu übernehmen. Es sei darauf hingewiesen, dass alle drei Angeklagten bei der Anklageerhebung berichteten, dass sie vor der Abfahrt des Schiffes von bewaffneten Schmugglern in einem Haus gefangen gehalten wurden. Von besonderer Bedeutung ist jedoch die Rolle der türkischen Küstenwache, die eindeutig beteiligt gewesen sein soll, da sie das Schiff passieren ließ, nachdem die türkischen Hafenbehörden die türkischen Schmuggler telefonisch kontaktiert hatten, was bedeutet, dass die Übergabe bekannt war, wenn nicht sogar in Zusammenarbeit mit ihnen erfolgte. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, warum sie nicht auf einer griechischen Insel Halt machten und stattdessen das Risiko eingingen, nach Italien zu fahren. Wovor hatten sie Angst? Diese Frage könnte zu dem wahren Verbrecher führen, nämlich der Politik der "Festung Europa", kommtiert Alexandros Georgoulis, einer ihrer Anwälte.

Das Schiffsunglück bei Paros war das dritte in der Ägäis innerhalb nur einer Woche. Bereits am 21. Dezember sank ein Boot südlich der Insel Folegandros, und am 23. Dezember krachte ein weiteres Boot auf Pori, eine Felseninsel nördlich von Antikythira. Insgesamt starben mindestens 31 Menschen, von denen viele noch vermisst werden.

"Diese Woche bin ich mit der herzzerreißenden Nachricht aufgewacht, dass meine Tochter auf See ihr Leben gelassen hat. Ich wünschte, ich hätte sie so fest umarmen können. Die Behörden hätten ihr das Leben retten können, wenn sie ihr das Recht gewährt hätten, mit uns zusammenzukommen", sagte der Vater von Rawnd Alayde.

Wir fordern:

  • Dass alle Anklagen gegen Abdallah, Kheiraldin und Mohamad fallen gelassen werden;
  • Freiheit für alle, die wegen des Steuerns eines Bootes inhaftiert sind, ungeachtet der Tatsache, dass es keine Alternative gibt, die Europäische Union zu erreichen;
  • Ein Ende der Kriminalisierung von Migration und der Inhaftierung von Schutzsuchenden.

 


Hintergrundinformationen

 

Freitag, 29 April 2022
© Photo Unsplash, Alwi Alaydrus