Press release - After Moria fire: Two minors sentenced to 5 years in prison despite lack of evidence

Am 9. März 2021 wurden die zwei Minderjährigen der insgesamt sechs Angeklagten wegen Brandstiftung mit Gefährdung anderer auf Lesbos schuldig gesprochen und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Das Urteil erfolgte innerhalb weniger Stunden und trotz Mangel an Beweisen. Die Anwält*innen der Angeklagten sowie Beobachter*innen bezeichnen den Prozess als untragbar und eines Rechtsstaats nicht würdig.

Das Gerichtsverfahren am vergangenen Dienstag war nach Aussage der Anwält*innen von Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet und hat zentrale rechtsstaatliche Standards wie das Grundprinzip der Unschuldsvermutung nicht erfüllt. Die Schuld der zwei Angeklagten A.A. und M.H. schien vielmehr von vornherein festzustehen und das Gericht entschlossen, das Verfahren so schnell wie möglich abzuschließen. Die zwei saßen zum Zeitpunkt des Gerichtsverfahrens fast sechs Monate in Untersuchungshaft - die maximal rechtlich zulässige Zeit für Minderjährige - und hätten bald entlassen werden müssen. Als verurteilte Straftäter*innen können sie nun bis zur Berufungsverhandlung weiter in Haft gehalten werden.

Die Staatsanwaltschaft rief insgesamt 17 Zeug*innen in den Zeug*innenstand, während der Verteidigung jeweils nur ein*e Zeug*in pro Angeklagtem zugestanden wurde - die Mindestanzahl an Zeug*innen, die das Gericht zulassen muss. Dies, obwohl mehr als zehn Personen vor Gericht warteten, die zugunsten der zwei Angeklagten aussagen wollten und u.a. Alibis nachweisen hätten können.

Die 17 Zeug*innen der Staatsanwaltschaft waren mehrheitlich Campbewohner*innen, die darüber sprachen, was sie im Brand verloren hatten. Lediglich zwei der Zeug*innen - zwei Polizist*innen - gaben an, aufgrund von Videoaufnahmen und Kleidung einen der beiden als Täter identifizieren zu können. Der erste sagte aus, dass der Angeklagte "schmal und klein" sei, doch als der Angeklagte, den er gerade "identifiziert" hatte, auf Aufforderung des Richters aufstand, war dieser um einen halben Kopf größer als der Polizist.

Der einzige Zeuge, der angegeben hatte, den zweiten Angeklagten identifizieren zu können, erschien nicht zum Prozess. Dennoch wurde der Staatsanwaltschaft gestattet, dessen schriftliche Erklärung während der Verhandlung zu verlesen. Dies steht im Widerspruch zum Recht eines*r Angeklagten, in einem Strafprozess jede*n Zeug*in gegen ihn ins Kreuzverhör nehmen zu können - ein Grundrecht, das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt wurde. Der Einspruch der Anwält*innen wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, der Staatsanwalt habe erfolglos versucht, den Zeugen ausfindig zu machen. Asylbewerber*innen sowie alle in Griechenland lebenden ausländischen Staatsangehörigen sind jedoch verpflichtet, ihre Adressen bei den Behörden zu melden und zu aktualisieren. Wenn er nicht leicht ausfindig gemacht werden konnte, hätte allein diese Tatsache seine frühere Aussage diskreditieren müssen.

Darüber hinaus wurde die Öffentlichkeit zum angeblichen Schutz der beiden jungen Männer vom Gerichtsverfahren ausgeschlossen. Mit dem Schutz der Angeklagten und Corona-Regeln wurden auch Bußgelder gerechtfertigt, die willkürlich an Menschen, die draußen vor dem Gerichtsgebäude eingetroffen waren, verhängt wurden. Versuche, Prozessbeobachtung durchzuführen, Solidarität mit den Angeklagten zu zeigen oder gegen den Prozess zu demonstrieren, wurden damit unterbunden. Gleichzeitig waren ständig mindestens fünf bis sieben Polizeibeamt*innen im Gerichtssaal anwesend - eine unverhältnismäßige und unnötige Anzahl an Beamt*innen, die zur Sicherung des Gerichts notwendig gewesen wäre und eine Verletzung des Rechts auf Privatsphäre der Angeklagten darstellten.

Trotz des Fehlens eindeutiger Beweise für die Beteiligung der beiden Angeklagten an den mehrfachen Brände wurden sie nach sechs Stunden Prozess schuldig gesprochen. Der Verlauf des Gerichtsverfahrens legt die Vermutung nahe, dass die zwei Angeklagten von vornherein als Schuldige feststanden. So hatte auch der Minister für Migration und Asyl, Notis Mitarakis, bereits am 16. September 2020 in einem Interview mit CNN erklärt: “Das Lager wurde von sechs afghanischen Flüchtlingen angezündet, die verhaftet worden sind.”

Die Anwält*innen des Legal Centre Lesbos haben Berufung gegen das Urteil eingelegt.

"Der Prozess gegen diese zwei der Moria6 stellt einen groben Justizskandal dar. Das tragische Ergebnis scheint Teil eines systematischen Versuchs, jeglichen Widerstand gegen Europas Grenzregime durch kollektive Bestrafung zu zerschlagen, indem nach jedem migrantisch organisierten Widerstand willkürlich Migrant*innnen verhaftet und angeklagt werden", so das Legal Centre Lesbos in ihrer Erklärung.

"Statt die katastrophalen Zustände zu skandalisieren, innerhalb derer die EU Geflüchtete nun schon seit Jahren wie Gefangene hält, werden diese dafür kriminalisiert, dass sie die inhumanen Zustände nicht mehr aushalten. Schlimmer noch, es werden komplett willkürlich Einzelpersonen zu Sündenböcken dieser unmenschlichen Politik gemacht", so Julia Winkler von borderline-europe.

"Der 9. März ist ein düsterer Tag für alle, die gegen Rassismus kämpfen. Die Verurteilung der beiden Jugendlichen ist ein weiteres empörendes Beispiel, wie Menschen auf der Flucht kriminalisiert werden, um von der Verantwortung derer abzulenken, die die Existenz eines Lagers wie 'Moria' oder 'Kara Tepe' überhaupt erst möglich machen", erklärt die Unterstützungskampagne You Can't Evict Solidarity, die den Prozess vor Ort beobachtet hat.

Die sowohl in Deutschland als auch in Griechenland tätigen Gruppen borderline-europe und Can't Evict Solidarity haben den Fall der Moria6 seit deren Verhaftung begleitet.

 


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Donnerstag, den 11. März 2021